Meine Comic-Favoriten 2009 – Platz 5
Pinocchio
Text: Winshluss
Grafik: Winshluss (Vorzeichnung, Tusche), Cizo u. a. (Farben)
Verlag: avant
© 2008 Winshluss/Edition les Réquins Marteaux
© 2009 avant-verlag
"Eine schöne Schachtel Pralinen... voller Gift" nennt Winshluss den 2009 in Angoulême als bestes Album ausgezeichneten "Pinocchio". Aus dem gutmütigen Schnitzer Gepetto ist ein geldgeiler Erfinder geworden, aus dem Holzpüppchen ein Kampfroboter. Statt einer Gewissensgrille, die den Holzkopf leitet, bringt ihn nun der im Blechschädel hausende Säufer Jiminy Wanze auf Abwege. Die Nase, die beim Lügen wächst, ist zum Flammenwerfer umfunktioniert.
Geschwindelt wird natürlich weiterhin. Auch vom Künstler: Winshluss stellt "Pinocchio" als "sehr freie Adaption des gleichnamigen Romans von Carlo Collodi" vor, parodiert dann aber vor allem Walt Disneys Kinoversion und lässt am Rande auch gleich noch Onkel Walts Schneewittchen von sieben Perverslingen begrabschen. Er schießt Pinocchio per Rakete in den Arsch von Méliès Mond, um wenig später verblüffend liebevoll "Superman" zu zitieren. Die Scherze in diesem Popmythenpotpourri sind mal pubertär (Gepettos lüsterne Gattin), mal brillant (im Spielzeugland verwandeln sich die Kinder diesmal nicht in Eselchen, sondern in faschistische Werwölfe).
Winshluss' "Pinochio" erscheint als dicker Prachtband mit trügerisch nostalgischem Cover*. Die "Pralinen" im Innern sehen zunächst reichlich matschig aus: Rotzige Underground-Pinselei dominiert, doch bald stößt man auf prachtvolle Aquarellpanoramen, feine Radierungen, coole Info-Comics. Das Schönste aber: Winshluss erschafft einen riesigen Geschichtenkosmos, spendiert selbst absurden Nebenfiguren (etwa einem beseelten Roboterauge!) eigene Handlungsstränge und verknüpft sie am Ende elegant. Eine um so größere Leistung, als "Pinocchio" gänzlich ohne Worte auskommt – wenn nicht gerade Jiminy Wanze oder der im Fall "Pinocchio" ermittelnde (auch sehr seltsame) Kommissar ihren Weltekel herausschreien.
Winshluss begann bereits 2003 mit "Pinocchio", unterbrach die Arbeit aber wegen eines kleinen Nebenprojekts: 2007 unterstützte er Marjane Satrapi unter seinem echten Namen Vincent Paronnaud als Co-Regisseur von "Persepolis".
* Sieht man genauer hin, erkennt man, dass die Frakturlettern des Titels lichterloh brennen.
Platz 3: "Drei Schatten"
Text und Grafik: Cyril Pedrosa (dt. v. Annette von der Weppen);
Verlag: Reprodukt
[Zu Platz 4]
(© 2007 Guy Delcourt Productions and Cyril Pedrosa/
Dt. Ausgabe: © 2008 Reprodukt)
Frei von Sorgen lebt der kleine Joachim mit Vater und Mutter auf einem abgelegenen Bauernhof. Ein pastorales Idyll, bis eines Abends die Silhouetten dreier Reiter am Horizont erscheinen. In den folgenden Wochen nähern sich die Schatten immer wieder dem Hof, um blitzartig zu verschwinden, wenn Joachims Eltern auftauchen. Schnell ist klar, dass sie den Sohn rauben wollen. Als alle Versuche, die Bedrohung zu vertreiben, scheitern, beschließt der Vater, mit seinem Jungen zu fliehen, bis die Reiter die Verfolgung aufgeben.
So viel zum Inhalt. Wer nun ohnehin mit dem Gedanken spielt, "Drei Schatten" zu lesen, sollte die Lektüre dieser Rezension vielleicht an dieser Stelle abbrechen und den Comic von Cyril Pedrosa ganz unvorbelastet auf sich wirken lassen. Wer aber weiterliest, möge sich anschließend bitte nicht beschweren, ich hätte ihn nicht gewarnt – obwohl ich mich bemühen werde, so wenig wie möglich zu "verraten".
Pedrosas Graphic Novel "Drei Schatten" hat ihn in Frankreich fast über Nacht zum Star gemacht – mit etwas Hilfe von Übervater Lewis Trondheim, der ihn unter seine Fittiche und ins Programm seines Labels "Shampooing" (bei Delcourt) nahm.
Pedrosa hatte zuvor mehrere Albenszenarien von David Chauvel ("Ring Circus") als Zeichner umgesetzt und das Soloprojekt "Les coeurs solitaires" verwirklicht. Doch erst die "Drei Schatten" brachten sein Erzähltalent wirklich ans Licht: ein Fantasy-Roman, ganz ohne Fantasy-Klischees, dafür voll erwachsener Angst und Trauer.
Der reißende, mitunter auch mäandernde Erzählstrom von "Drei Schatten" speist sich im Wesentlichen aus zwei Quellen: Pedrosas Mitgefühl für Freunde, die ein Kind verloren hatten, und den Einwanderer-Wurzeln des Künstlers. Deshalb will Joachims Vater mit seinem Sohn nun ins Land des Großvaters flüchten (das er selbst nicht kennt), und deshalb spricht ein greises Ehepaar, dass die beiden auf ihrer Reise treffen, nun einen von Pedrosa erfundenen portugiesischen Dialekt.
"Drei Schatten" ist keineswegs perfekt: Viel zu viele Figuren begegnen Vater und Sohn auf deren Odyssee, und während die Ambivalenz einiger Charaktere fasziniert, bleiben einige – zumindest mir – rätselhaft.
Nichtdestotrotz ist "Drei Schatten" ganz klar der bisherige künstlerische Höhepunkt jener interessanten Comic-Richtung, die ich gern "Post-Disney" nenne: Seit einigen Jahren erweitern Künstler aus dem romanischen Sprachraum, oft ehemalige Animatoren, den ursprünglich auf Kinder ausgerichteten Stil der US-Mainstream-Trickfilme, um über erwachsene Themen wie Tod, Gewalt oder Religion zu sprechen. (Vielleicht auch eine Folge der Tatsache, dass Disney nach diversen gefloppten 2-D-Trickfilmen seine europäischen Ateliers dicht gemacht und mancher Zeichner plötzlich viel Zeit hatte?). Paradebeispiele für "Post-Disney" sind die maßlos überschätzte Krimiserie "Blacksad" und die sträflich unterschätzte Glaubenssatire "Sky Doll".
Pedrosas Background als Trickfilmer zeigt sich vor allem in der "Inszenierung". Er lässt seine Figuren meisterhaft durch Gesten und Haltung schauspielern, weshalb er in vielen Szenen auf Dialoge verzichten kann. Er betont Rhythmus und Timing und kreiert dabei sogar neue Techniken. So verbindet er oft minimale Bewegungen zwischen zwei Panels (die in anderen Comics meist statisch wirken) mit "Zooms", was den Sequenzen eine verblüffende filmische Dynamik verleiht.
Pedrosas Grafik passt sich ansonsten chamäleonartig der Atmosphäre seines Szenarios an: Eben noch reitet Joachims besorgte Mutter durch ein liebevoll gezeichnetes, fast dreidimensional anmutendes Städtchen, nun türmen Vater und Sohn schon in halbtrocken aufs Papier gehuschten Pinselstrichen durch einen Wald.
Vor seiner Comic-Karriere arbeitete Cyril Pedrosa u. a. an Disneys "Hercules" und "Der Glöckner von Nôtre Dame" mit. Zwar könnte manche Figur in "Drei Schatten" optisch einem dieser Filme entsprungen sein, jedoch ist Pedrosas Strich so quecksilbrig, dass er eher Disney in seinen Stil integriert als umgekehrt.
Zur Fantasy-Miniserie "Fafhrd und der Graue Mausling"
Fritz Leibers Fantasy-Gauner "Fafhrd und der Graue Mausling"
behalten selbst im Rausch den Durchblick
(auch in der Comic-Version von Chaykin und Mignola)
(© Fritz Leiber & The Estate of Fritz Leiber;
dt. Ausg.: Amigo Grafik/Cross Cult)
Nein, Szenen wie diese liest man wirklich nicht alle Tage:
Nachdem sie einen fahrenden Händler um Börse und Zugpferde erleichtert haben, preschen die beiden besten Diebe des Planeten Nehwon auf den gestohlenen Gäulen davon. Hinter ihnen reckt der Händler hilflos die Fäuste und brüllt:
"Diebe! Kommt zurück!"
Woraufhin der Graue Mausling (klein, schwarzgelockt) seinem neben ihm reitenden Komplizen Fafhrd (hünenhaft, rotbärtig) fröhlich zuruft:
"Was für ein absurder Vorschlag! Ob sie das jemals begreifen?"
Nanu, sarkastische Sprachkritik in einem Fantasy-Comic?
Ich gebe zu: Ich habe nicht nur gelacht, sondern auch gestaunt. Die Szene findet sich in der zweiten von sieben Kurzgeschichten, die zusammen die Miniserie "Fafhrd und der Graue Mausling" bilden. Und sie ist durchaus typisch für diesen Comic, der ursprünglich von 1990 bis '91 in vier Heften bei Marvel erschien, aber erst im März 2007 endlich als US-Sammelband bei Dark Horse neu aufgelegt wurde. Im September hat Cross Cult dieses kleine Juwel nun als schmuckes Hardcover auf Deutsch herausgebracht.
Tja, mea culpa: Vor einigen Wochen habe ich hier in einem Porträt der glänzenden Serie "Donjon" noch geklagt, das Genre der Fantasy-Comics habe ansonsten ja herzlich wenige intellektuelle Gemmen hervorgebracht. Das sehe ich zwar nach wie vor so, allerdings wünschte ich, ich hätte neben "Donjon" auch prompt "Fafhrd und der Graue Mausling" als Ausnahme gelobt. Nur hatte ich das Werk des Traumtrios Chaykin, Mignola und Williamson leider nicht auf dem Zettel.
Was um so peinlicher ist, als ich auch den Autor der literarischen Vorlage schätze: Fritz Leiber (1910–1992) studierte Philosophie, Psychologie und Biologie, war eine Zeit lang Schauspieler und Schauspiellehrer, eine kürzere Zeit lang Laienprediger, die längste Zeit über aber Autor phantastischer Literatur.
Leiber (sprich: "Lieber") sah sich als Schüler des Horrorpapstes H. P. Lovecraft und Epigone von "Conan"-Schöpfer Robert E. Howard und hätte wohl nie zugegeben, dass er als Stilist beiden klar überlegen war. Der Mann aus Chicago gewann so ziemlich alle Preise der Sci-Fi-, Horror- und Fantasy-Literatur, blieb aber – besonders hierzulande – dem Mainstream-Publikum merkwürdig unbekannt.
Ich selbst habe Leiber auch erst vor wenigen Jahren durch seine brillante Horror-Story "Smoke Ghost" kennen gelernt, die um 1940 entstand, mit ihren abgefeimten Psychospielchen aber noch heute modern wirkt. Seine größten Erfolge feierte er allerdings mit den Fantasy-Geschichten um "Fafhrd and the Grey Mouser", deren erste er 1939 publizierte, die letzte knapp 50 Jahre später. Leiber erfand die Figuren gemeinsam mit seinem Freund Harry Otto Fischer, schrieb aber fast sämliche Geschichten allein.
Leibers Helden, der Ex-Pirat Fafhrd (was offenbar so ähnlich wie "Faferd" ausgesprochen wird) und der gescheiterte Zauberlehrling Mausling, plünderten die geheimnisvolle Welt von Nehwon aus, bestellten aber gleichzeitig ein Feld, von dem die Fantasy bis heute zehrt: Leibers wimmelnde, dekadente Metropole Lankhmar darf wohl als Keimzelle aller wimmelnden, dekadenten Fantasy-Metropolen gelten und beeinflusste nicht zuletzt die Rollenspiel-Szene.
Anders als die meisten Fantasy-Autoren vor und nach ihm nahm Leiber seinen Kosmos nie zu ernst, sondern nutzte ihn als satirischen Zauberspiegel für die Realität. Terry Pratchett, der erfolgreichste aller Fantasy-Ironiker, zollte dem Meister denn auch schon im ersten seiner "Scheibenwelt"-Bestseller Tribut und parodierte Fafhrd und den Mausling als "Bravd und Schleicher" (im witzigeren Original: "Bravd and the Weasel").
Zwar herrscht auf dem Planeten Nehwon kein Mangel an Wundern, doch erstaunlich oft drehen sich die Geschichten Fritz Leibers um Schein und Wirklichkeit: In "Basar des Bizarren" verbirgt sich hinter dem Angriff der "Verschlinger" offenkundig eine Satire auf Werbung und Propaganda. In "Schwere Zeiten in Lankhmar" zerstreiten sich der Mausling und sein Freund allen Ernstes über die korrekte Schreibweise von Fafhrds Namen und finden dann durch ein vom Mausling clever – und rasend komisch – arrangiertes religiöses "Wunder" wieder zueinander.
Nun ist es sicher nicht der Name "Fritz Leiber", der dem Cross-Cult-Band die meisten Käufer bescheren wird, sondern der Name "Mike Mignola". Wer den Comic allerdings nur als Gesellenstück des späteren "Hellboy"-Schöpfers liest, bringt sich um viel mehr als nur den halben Spaß. Denn erstens ist hier eine meisterhafte Adaption zu genießen und zweitens ein Musterbeispiel für gutes Teamwork, bei dem Comic-Kreative sich elegant die Bälle zuspielen. [...]
"The Red Star [Bd. 2]: Nokgorka" von Christian Gossett
Kinderkriegerin Makita kämpft mit der Symbolik.
Aus: "The Red Star 2: Nokgorka"
(© 2000–2007 by Christian Gossett;
dt. Ausg.: © 2007 Cross Cult/Amigo Grafik)
Ein wunderhübsches Hochglanzprodukt mit Babes in Uniform und jeder Menge martialischem Remmidemmi – nach viel mehr sieht die 2000 in den USA gestartete Serie "The Red Star" auf den ersten Blick nicht aus. Unter der gelackten Fassade verbirgt sich allerdings einer der seltsamsten Comics überhaupt.
Man muss sich das einmal vorstellen: Da denkt sich Mitte der 90er ein junger New Yorker namens Christian Gossett ein Kriegsepos aus, das in einer Fantasy-Version der späten Sowjetunion spielt. Einerseits ist Hexerei dort so alltäglich wie Wodka und Piroggen. Anderseits hat man die Magie in ein militärisches Korsett gezwängt. Wenn die schöne "Genossin Zauberin" Maya Antares also mit einem Spruch eine Schar Gegner ins Erdinnere schleudern will, dann klingt das so: "Zone: erste Schrittweite. Tiefe: eins drei zero. Protokoll: Sturz."
In den Quellenangaben zu "The Red Star" (auch etwas, das man nicht in jedem Comic findet) nennt Gossett u. a. Gogols Klassiker "Die toten Seelen" von 1842. Der Leibeigenschaftssatire aus dem zaristischen Russland hat Gossett womöglich ein wichtiges Motiv seines zwischen Sciencefiction und Fantasy angesiedelten Epos' entnommen, denn auch in "The Red Star" geht es – so viel darf man wohl verraten – letztlich um Geschäfte mit toten Seelen.
Die Protagonisten von "The Red Star" sind in erster Linie attraktive Frauen, anders als im Fantasy-Genre üblich zeigt der Zeichner sie allerdings niemals leicht bekleidet in sexy Posen, sondern meist mit sorgenschwerem Blick in dicker Winterkleidung. Das erstaunt um so mehr, als Gossett und seine Computer-Kumpel sich im "Making of"-Material der Comic-Bände als große Jungs präsentieren.
Als grafische Inspiration nutzte Gossett, Schöpfer, Zeichner und Hauptautor der Serie, denn auch keine Superhelden-Comics, sondern kommunistische Propagandaplakate und Kolossalskulpturen. (Statuen wie "Arbeiter und Kolchosbäuerin" oder "Mutter Heimat ruft" wirken heute, als seien sie Gossetts Paralleluniversum entsprungen).
Gossetts grafisches Konzept ist mindestens so exzentrisch wie sein Szenario: Einerseits gilt "The Red Star" als eines der eindrucksvollsten Beispiel für den Einsatz computergenerierter Grafik im Comic. Gossett dirigiert mehrere 3-D-Grafikteams und Solo-Virtuosen, die seine Bleistift-Entwürfe in Raumschiffmodelle und Landschaften umsetzen oder zur Berechnung der passenden Ausleuchtung einer Szene benutzen.
Alle Macht den Geräten? Weit gefehlt: Gossets Pionierarbeit ist eine Ode an die gekonnte Bleistiftzeichnung. Er verbirgt die Graphitstrukturen seiner delikat konstruierten Figuren nicht wie im Comic üblich unter eleganter schwarzer Tusche. Im Gegenteil: Er stellt sie stolz vor die am Computer gerenderten Hintergründe und vergrößert sie mitunter, bis die Bleistiftstriche wie Kohlezeichnungen wirken.
Der Reiz von "The Red Star" liegt in solchen Widersprüchen, Absurditäten, Ambivalenzen – und sogar in seinen Schwächen.
Im August ist bei Cross Cult mit "Nokgorka" der zweite deutsche Sammelband erschienen. Sehr erfreulich: Die deutsche Ausgabe enthält (als Prolog) auch das Sonderheft "Run, Makita, Run!", das im US-Pendant von 2002 unverschämterweise nicht enthalten war. Es gehört zu den Höhepunkten der Serie und gibt der Figur der Kinderpartisanin Makita wesentlich mehr Tiefe. Der erste Band, "Die Schlacht vor Kar Dathras Tor", wirkte mit seinen ganz- bis doppelseitigen Panels oft eher wie ein Posterbook denn wie ein Comic, ein rechter Lesefluss mochte sich nicht einstellen. Das ist zum Glück vorbei: Gossett legt nun mehr Wert auf Montage und Timing. Außerdem zeichnet er die Mimik der Charaktere wesentlich nuancierter.
Im Labyrinth der Fantasy-Serie "Donjon"
(Teil 2 von 2)
Killerin Alexandra sucht Trost bei Professor Cormor.
Aus: "Donjon -84: Nach dem Regen"
(© 2006 by Guy Delcourt Productions;
dt. Ausg.: © 2007 Reprodukt)
Wenn Joann Sfar und Lewis Trondheim viermal gefragt werden, wie ihre "Donjon"-Geschichten entstehen, geben sie vier unterschiedliche Antworten. Doch, so viel scheint sicher, offenbar ist es meistens Sfar, der die Grundidee eines neuen Albums liefert. In langen Telefongesprächen spinnen beide Autoren dann das Szenario aus. Beim eigentlichen Schreiben folgen sie keiner festen Arbeitsteilung: Mal liefert Sfar mehrseitige Zusammenfassungen, die Trondheim nur im Detail verändert, mal arbeiten sie sich abwechselnd Seite für Seite durch das Album, so dass auf eine reine Sfar-Seite eine Seite purer Trondheim folgen kann. Der französische "Donjon"-Verleger Guy Delcourt, verrät Sfar in einem "BD Paradiso"-Interview, "foppt uns manchmal ein bisschen, indem er sagt, Lewis wäre Fred Astaire und ich Ginger Rogers." Grundsätzlich skizziert Trondheim nach dem Erstellen des Szenarios Seitenlayout und Bildaufbau – selbst dann, wenn nicht er oder Sfar, sondern einer ihrer zahlreichen Gastkünstler das Album zeichnet.
"Donjon", meint Trondheim, sei inzwischen "ein Monster geworden, ein sympathisches Monster, aber eines, dass niemals einer allein hätte erschaffen können." Als er und Sfar neben der Urserie "Donjon" (alias "Donjon Zenit") Serien über Vorgeschichte ("Donjon Morgengrauen") und Untergang ("Donjon Abenddämmerung") ihrer Fantasy-Festung starteten, deuteten sie durch die eigenwillige Nummerierung der Alben an, dass die gesamte Geschichte 300 Alben umfassen würde (dazu später mehr). Auf Nachfragen, ob sie dass denn ernst meinten, "sagten wir zunächst immer nein", erzählt Trondheim auf "BD Paradiso", "aber inzwischen denken wir: warum nicht?" In erster Linie ginge es den Autoren jedoch einfach darum, Spaß zu haben.
"Donjon" liegt kein bis ins letzte Detail durchdachtes Konzept zu Grunde. Sfar und Trondheim kreierten die Serie Ende der 90er-Jahre aus Lust und Laune. Oder besser: aus Frust und Laune. Denn bevor es "Donjon" gab, gab es "Troll" [...].
Im Labyrinth der Fantasy-Serie "Donjon"
(Teil 1 von 2)
Als Innenarchitekt verkleidet,
infiltriert Herbert das Hauptquartier des Feindes.
Aus: "Donjon 1: Das Herz einer Ente".
(© 1998 by Guy Delcourts Productions;
dt. Ausg.: © 2007 Reprodukt)
Obwohl frankophile deutsche Comic-Fans es gern leugnen, verkauft sich auch im Comic-Wunderland Frankreich pubertärer Trash wesentlich besser als intellektuelle Panel-Kunst. Besonders die Unmengen einheimischer "héroïc-fantasy"-Alben, mit langen Schwertern und knappen Lederminis, haben mich beim Besuch französischer Comic-Läden immer wieder erstaunt.
Bevor ich mir hier unnötig böse Kommentare einhandle: Auch ich mag den überbordenden Einfallsreichtum und rüden Humor des "Lanfeust"-Comic-Kosmos, und "Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit" gehört meines Erachtens in jede gute Sammlung. Die einzige französische Fantasy-Serie aber, deren Komplexität, Intelligenz und Esprit mich immer wieder beeindruckt, ist ausgerechnet eine Persiflage.
Fast zehn Jahre hat sie inzwischen auf dem Buckel und noch immer wirkt ihre Eröffnungsszene wunderbar frisch und frech:
"Vier schwarze Türme, deren höchster von zehn Tagesmärschen Entfernung aus zu sehen ist. Eine versteckte Eisentür inmitten der stinkenden Sümpfe. Endlose, mit Moos und Salpeter bedeckte Gänge. Leitern, Lastenaufzüge, Treppen bis ins Innere der Erde. Hinter jedem Stein verbergen sich legendäre Waffen, Fallen [...] [und] Monster zu Hunderten. Aus der ganzen Welt kommen Abenteurer auf der Suche nach Reichtum und Erfahrung, um sich an meinen Monstern zu messen. [...]Sekunden nach dieser gescheiterten feindlichen Übernahme lässt der Hüter der Donjon-Festung die unverschämten Kapuzenträger aus dem Fenster des höchsten Turmes werfen.
Und ihr mit euren Sockenköpfen, ihr kommt einfach her und verlangt, dass ich meinen Donjon verkaufe!
Ihr spinnt wohl!"
Joann Sfar und Lewis Trondheim brauchten 1998 keine drei Seiten, um deutlich zu machen, dass in ihrer Serie "Donjon" ein anderer Ton herrschte als im großen Rest der Fantasy: respektlos, aber sophisticated, traditionsbewusst, aber sehr heutig.
"Sandman: Das Puppenhaus" von Neil Gaiman
Die Teilnehmer der "Cereal Convention" haben Mordsspaß
(© 1989,1990,1995 DC Comics;
dt. Ausg.: © 2007 Panini Verlags-GmbH)
Obwohl die Serie "Sandman" auch hierzulande immer wieder gern als Musterbeispiel für "literarische" Comics genannt wird, hat Neil Gaimans über 2000-seitiges Epos bei uns jahrelang eine eher stiefmütterliche Behandlung erfahren. Feest/Ehapa veröffentlichte die Episoden in den 90ern nicht in der Reihenfolge des US-Originals, teilte die amerikanischen Sammelbände, wie damals leider üblich, in jeweils zwei Bücher auf und stellte die viel gelobte, aber wohl doch nicht so viel gekaufte Serie nach etwa zwei Dritteln ein. Später führte der Verlag Thomas Tilsner ("Speed Comics") die Serie zu Ende, freilich waren die ersten Geschichten nun nicht mehr lieferbar und blieben es auch für lange Zeit.
Seit April 2007 bringt Panini nun die Neuedition von "Sandman" heraus und hält sich dabei erfreulich eng an die Originalausgaben. Im Juni ist "Das Puppenhaus" erschienen, der zweite Band der in den USA von 1988 bis 1996 veröffentlichten Serie. Inwieweit sich die neue (und größtenteils angenehm flüssige) Übersetzung von Gerlinde Althoff ("Promethea", "Fables") von der seinerzeit in der Szene gefeierten Übertragung Frank Neubauers unterscheidet, kann ich nicht beurteilen, denn ich habe Sandman bislang größtenteils im Original gelesen. Ich nehme aber an, man hat einige Schnitzer beseitigt, die aufmerksamen Lesern im Gesamtzusammenhang der Serie aufgestoßen wären.
Auf jeden Fall macht der neue, angenehm wuchtige Paperback-Band haptisch wie optisch mehr her als die zwei schlabbrigen Softcover "Das Puppenhaus" und "Verlorene Herzen", in die man die Storyline "A Doll's House" 1995 bei Feest zerteilt hatte, um sie entgegen der US-Chronologie als Band 6 und 7 herauszubringen.
Nachdem der Herr der Träume in Band 1 ("Präludien & Notturni") von einem Schwarzmagier gefangen genommen worden war und sich nach der Befreiung mühsam seine geraubten Insignien zurückerstritten hat, nimmt er zu Beginn des zweiten Bandes erst einmal eine Volkszählung im Traumland vor und stellt fest, dass einige seiner Schöpfungen in die Realität entfleucht sind, darunter der "Korinther", ein Alptraum mit Zahnreihen anstelle von Augenlidern, und "Fiddler's Green", eine Art Ort mit Bewusstsein (hey, Kopfschüttler: es geht hier ums Traumland!). Außerdem entdeckt Dream, wie sich der anglophile Herr der Träume auch im Deutschen gern nennt, einen Traumwirbel: einen Menschen, der das ganze Traumgefüge durcheinanderbringen und zerstören könnte. Und so bricht der "Sandman" auf, die Ausreißer einzufangen und den Wirbel unschädlich zu machen.
dann legen sie sich um
Bill Willinghams Serie "Fables" (Teil 3 von 3)
"Stage Five: Extraction.
After completion of all objectives, return to the extraction point [...].
The beanstalk should have fully deployed by the time you reach it.
Plant the remaining bombs at its base in places of concealment to avoid detection from any forces that might give chase.
Be sure to activate the radio detonator while in the Empire dimension
to ensure a good signal."
Aus: "Fables [8]: Wolves"
(© 2006 Bill Willingham and DC Comics)
Wolf, Whiskey und Mowgli: Ein Beispiel für den schattenbetonten Zeichenstil des Teams Buckingham/Leialoha.
Aus "Fables [8]: Wolves"
(© 2006 Bill Willingham and DC Comics)
(Fortsetzung von Teil 2)
"Fables" ist nicht "Shrek": Der Autor Bill Willingham parodiert Märchen nicht, er persifliert sie, spinnt sie satirisch fort oder erfindet sie ironisch neu – als "wahre Geschichte" hinter der Kinderbuchfassade. Vor allem aber nutzt er sie für ein intelligentes Spiel mit Mythen und Archetypen im Rahmen moderner Genreerzählungen. Auf die Detektiv-Story von Band 1 folgt in Band 2 eine Geschichte um Verschwörung und Rebellion. Band 3 beginnt mit einem kurzen Thriller um einen meisterhaft geplanten Einbruch und wird dann zum Mix aus Actionthriller und romantischer Komödie. In späteren Bänden folgen Kriegsabenteuer und jede Menge Seifenoper.
Band 2 ("Animal Farm", dt. "Farm der Tiere") beginnt mit Snow Whites alljährlichem Inspektionsbesuch auf der "Farm". Hier leben (siehe Teil 1 dieses Textes) jene Märchenwesen, die keine menschliche Gestalt annehmen können oder wollen. Kaum angekommen, stellt "Miss White" fest, dass zwei der drei kleinen Schweinchen einen Putsch planen, maßgeblich unterstützt von der zunehmend soziopathischen Tiersympathisantin Goldilocks (Goldlöckchen). Wenig später verliert das erste Tierchen den Kopf und Snow White ist auf der Flucht. [...]
dann legen sie sich um
Bill Willinghams Serie "Fables" (Teil 2 von 3)
"Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. [...]
'Guten Tag, Rotkäppchen', sprach er. 'Schönen Dank, Wolf.'
'Wo hinaus so früh, Rotkäppchen?' 'Zur Großmutter.'
'Was trägst du unter der Schürze?'"
Brüder Grimm:
"Kinder- und Hausmärchen:
Rotkäppchen"
Schneewittchen und der große böse Wolf in einer Ballszene
und Balz-Szene aus "Fables [1]: Legends in Exile"
(©2002 Bill Willingham and DC Comics)
(Fortsetzung von Teil 1)
Insgesamt siebenmal hat "Fables" bislang den Eisner Award gewonnen, das Comic-Pendant zum Oscar: 2003 als Beste neue Serie und für die Beste Story innerhalb einer Serie ("Legends in Exile"), 2005 und 2006 für die Beste Story innerhalb einer Serie ("March of the Wooden Soldiers" und "Homelands") und 2004 bis 2006 für den Besten Titel-Künstler (James Jean, dessen Titelbilder oft wie eine Mischung aus der lowbrow art eines Mark Ryden und coolen Plattencovern wirken).
Tatsächlich markieren die Bände 4 und 6 ("March of the Wooden Soldiers" und "Homelands") die bisherigen erzählerischen Höhepunkte der Serie. Dass allerdings bereits der Debütband, "Legends in Exile", ausgezeichnet wurde, zeigt vor allem, wie ausgehungert die Mainstream-Comic-Szene nach Konzepten jenseits der immer noch dominanten Superhelden sind. Denn: Verglichen mit den aufregend cleveren Debütbänden anderer Vertigo-Serien, etwa "Preacher", "100 Bullets" oder "Y – The Last Man", wirkt der erste Handlungsbogen von "Fables" noch flach und unausgegoren. [...]
dann legen sie sich um
Bill Willinghams Serie "Fables" (Teil 1 von 3)
"Somebody has been lying in my bed!"
Flora Annie Steel:
"English Fairy Tales:
The Story of the Three Bears"
Der rollige Reineke macht Schneewittchen fuchsig.
Aus: "Fables [2]: Animal Farm"
(©2002, 2003 Bill Willingham and DC Comics)
Nach dem ersten Band fand ich "Fables" witzig und hübsch, aber etwas fad. Nach dem zweiten entwickelte ich skeptische Sympathie. Nach dem dritten war ich heftig verliebt. Die Romanze hielt über drei weitere Bände an. Dann wurde, trotz schöner Momente, aus Leidenschaft Routine, und seit dem achten Band stellt sich mitunter Langeweile ein. Ich weiß nicht, wie es weitergeht, aber ich denke, "Fables" und ich, wir werden trotz allem Freunde bleiben.
Die US-Comic-Serie "Fables" handelt von Charakteren aus Märchen und andereren Populärmythen, die im New York des 21. Jahrhunderts leben. Einst von dem ominösen "Feind" (im Original: "the Adversary") aus dem Reich der Fantasie vertrieben, haben sich Schneewittchen, Blaubart, der große böse (Wer-)Wolf und viele andere inzwischen in Fabletown eingerichtet, einem Teil Manhattans, der durch Magie von der Neugier der mundies abgeschirmt ist (der "Fables"-Version von Harry Potters "Muggels", mit anderen Worten: wir). Fabelwesen, die keine menschliche Gestalt annehmen können, müssen vor den Toren New Yorks auf einer Farm leben.
Am 14. März 2007 ist "Animal Farm", der zweite Paperback-Band von "Fables", auf deutsch erschienen, entsprechend der Orwell-Anspielung natürlich als "Farm der Tiere". Der erste Band, "Legenden im Exil" ("Legends in Exile"), erschien bereits im November 2006. Neben positiven Besprechungen, u.a. bei Spiegel online und Splash Comics, stehen auch eher verwunderte Reaktionen auf die amerikanischen Vorschusslorbeeren. Obwohl ich mich ohne Zögern als "Fables"-Fan bezeichnen würde, kann ich diese Zurückhaltung verstehen, denn die Serie offenbart erst im zweiten Band ihren subversiven Charme.
Weil es zu "Fables" allerlei zu sagen gibt, splitte ich mein Porträt des Comics in mehrere Teile. Ich versuche, im Folgenden nicht zu viele Story-Details zu verraten. Wer die Serie ohnehin (weiter)lesen will und nicht einmal ansatzweise wissen möchte, was "als nächstes kommt", sollte aber vielleicht lieber sofort aus diesem Text aussteigen. [...]