Dienstag, 3. April 2007
Und wenn sie nicht gestorben sind,
dann legen sie sich um

Bill Willinghams Serie "Fables" (Teil 2 von 3)

"Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. [...]
'Guten Tag, Rotkäppchen', sprach er. 'Schönen Dank, Wolf.'
'Wo hinaus so früh, Rotkäppchen?' 'Zur Großmutter.'
'Was trägst du unter der Schürze?'"

Brüder Grimm:
"Kinder- und Hausmärchen:
Rotkäppchen"

Schneewittchen und der große böse Wolf in einer Ballszene
und Balz-Szene aus "Fables [1]: Legends in Exile"

(©2002 Bill Willingham and DC Comics)


(Fortsetzung von Teil 1)

Insgesamt siebenmal hat "Fables" bislang den Eisner Award gewonnen, das Comic-Pendant zum Oscar: 2003 als Beste neue Serie und für die Beste Story innerhalb einer Serie ("Legends in Exile"), 2005 und 2006 für die Beste Story innerhalb einer Serie ("March of the Wooden Soldiers" und "Homelands") und 2004 bis 2006 für den Besten Titel-Künstler (James Jean, dessen Titelbilder oft wie eine Mischung aus der lowbrow art eines Mark Ryden und coolen Plattencovern wirken).

Tatsächlich markieren die Bände 4 und 6 ("March of the Wooden Soldiers" und "Homelands") die bisherigen erzählerischen Höhepunkte der Serie. Dass allerdings bereits der Debütband, "Legends in Exile", ausgezeichnet wurde, zeigt vor allem, wie ausgehungert die Mainstream-Comic-Szene nach Konzepten jenseits der immer noch dominanten Superhelden sind. Denn: Verglichen mit den aufregend cleveren Debütbänden anderer Vertigo-Serien, etwa "Preacher", "100 Bullets" oder "Y – The Last Man", wirkt der erste Handlungsbogen von "Fables" noch flach und unausgegoren.

Im Rahmen einer Detektivgeschichte präsentiert "Legends in Exile" die wichtigsten Charaktere und Konzepte des "Fables"-Kosmos. Als Exposition funktioniert die Story noch recht gut, als Beitrag zum Krimigenre dagegen wirkt sie albern. Mir fallen, ohne lang nachzudenken, fünf Comic-Krimis ein, die spannender und intelligenter gestrickt sind. (Okay, nur als Beispiel: "Top 10", "Kane", "Alias", "Scene of the Crime" und "Whiteout")

Sicher, "Fables" nimmt sich niemals ganz ernst, und Willingham legt den ersten Band als Krimikomödie an. Doch selbst dann wirkt die Mörderjagd unbeholfen und – was fast schlimmer ist – die Auflösung zu harmlos. Nichts in "Legends in Exile" deutet darauf hin, mit welcher intelligenten Aggressivität Willingham schon ab Band 2 seine Charaktere leiden und sterben lassen wird. Oder wie er selbst es in einem fabelhaften IGN-Interview ausgedrückt hat: "In fact the only thing that really determines a character's prosperity is the state of my bloodlust, which varies from one week to the next."

Und dennoch: "Legends in Exile" enthält bereits zwei von vier Elementen, die den heutigen Kultstatus der Serie unter englischsprachigen Comic-Lesern erklären. Bereits vorhanden sind: Willinghams Gespür für originelle, komplexe Charaktere und sein Talent für gescheite Dialoge. Was noch fehlt sind die kongenialen Zeichnungen von Mark Buckingham und eine große Portion Chuzpe beim Umgang mit Charakteren und Leser-Erwartungen.

Besonders auf deutsche Leser, die mit Grimms Märchen aufgewachsen sind, wirkt Willingshams Personal-Liste zunächst verwirrend. Der Amerikaner zieht Charaktere, die den gleichen Namen tragen, zu einer Figur zusammen. Sein Big Bad Wolf, dort freundlich verkürzt zu Bigby Wolf, entspricht sowohl dem Wolf aus "Rotkäppchen" wie dem der "sieben Geißlein" und so ziemlich jedem anderen Märchenwolf. Wesentlich komplizierter: Willinghams Snow White ist das Grimm'sche Schneewittchen, aber auch Schneeweißchen, das im englischen Sprachraum ebenfalls Snow White heißt. Weshalb Snow White in "Fables" denn auch die Schwester von Rose Red ist, der anderen Hälfte von "Schneeweißchen und Rosenrot".

Diese Methode führt zu unerwartet frechen Resultaten: Die Figur des Prince Charming etwa entspricht dem Prinzen aus "Schneewittchen", "Rapunzel" und "Aschenbrödel" – was ihn im Comic zu einem mehrfach geschiedenen notorischen Fremdgänger und Verführer macht. Ohnehin verfügen die Figuren hier über eine gut entwickelte Libido. (Nur nebenbei: Einige Jahre vor "Fables" hat Willingham den pornografischen Comic "Ironwood" erdacht.)
In der deutschen Übersetzung (Panini) hat man die englischen Namen übernommen und ein erklärendes „Who's Who“ hinzugefügt – ein kluge Entscheidung, denn alles andere hätte nur noch mehr Verwirrung gestiftet.

Obwohl Willingham sich relativ eng an die Vorlagen hält – sein Mowgli und andere "Dschungelbuch"-Figuren etwa entsprechen eher der elegischen Kipling- denn der heiteren Disney-Version – springt er doch erfrischend respektlos mit den Vorlagen um und entwickelt sie weiter Snow White etwa hat sich von der naiven Prinzenbraut zur eleganten, aber abgebrühten Vize-Bürgermeisterin von Fabletown gewandelt. Bigby Wolf, zum Menschen verzaubert und weitgehend resozialisiert, nutzt seinen animalischen Spürsinn inzwischen als Sicherheits-Chef der Gemeinde.

Daneben stehen noch Figuren aus Liedern und Kinderreimen, etwa King Cole und Boy Blue, über die wenig bekannt ist, außer dass sie "a merry old soul" bzw. ein begeisterter Trompeter sind. Doch selbst daraus bastelt Willingham im Laufe mehrerer Bände komplexe Figuren.

Ab Band 2 beginnt der Texter damit, die scheinbar unschuldigen Ideen der Märchen satirisch und aggressiv fortzuspinnen. Goldy Locks (bei uns bekannt als Goldlöckchen), einst vom Bärensohn in dessen Bettchen entdeckt, schläft offenbar immer noch darin – mit dem Bären. Die Andersen-Figur Kay (bei uns: Karl), einst von der Schneekönigin entführt, hat seit Jahrhunderten Splitter eines teuflischen Zauberspiegels in den Augen. Weil diese ihn das Böse in anderen Menschen besonders deutlich sehen lassen, sticht er sich aus Gram die Augen aus – die indes immer wieder nachwachsen.

Dank Willinghams Sprachgefühl parliert bereits in Band 1 keine Figur wie die andere: von der Bogart-inspirierten Coolness Bigbys über Snow Whites unterkühlte Noblesse und das ironische Gesäusel der früheren Pfefferkuchenhaus-Hexe Frau Totenkinder bis hin zum zornigen Genörgel von Ex-Holzkopf Pinocchio (der anders als im Märchen kein echter Junge mehr sein will, sondern endlich ein echter Kerl).

Da ich die Originalbände besitze, habe ich mir natürlich nicht zusätzlich die deutsche Version (Panini Comics) zugelegt, sie aber überflogen. Insgesamt wirkt die Übertragung von Gerlinde Althoff ähnlich eloquent und witzig wie das Original. Dialog-Highlights wie der Schlagabtausch in der oben abgebildeten Tanzszene lesen sich für mich im Original zwar etwas flüssiger, allerdings gelingt es Althoff erfreulich oft, die unterschiedlichen Sprachstile der Figuren ins Deutsche zu retten. In dem erwähnten Schwatz beim Schwof macht sie übrigens aus Snow Whites Unterscheidung zwischen "gentlemen" und "dogs" einen doppeldeutigen Vergleich von "Gentlemen" und "Rüden" – Hut ab!

[Fortsetzung in Teil 3]