Samstag, 20. Februar 2010
Was vom Jahre übrig blieb:
Meine Comic-Favoriten 2009 – Platz 5

Pinocchio

Text: Winshluss
Grafik: Winshluss (Vorzeichnung, Tusche), Cizo u. a. (Farben)
Verlag: avant

© 2008 Winshluss/Edition les Réquins Marteaux
© 2009 avant-verlag

"Eine schöne Schachtel Pralinen... voller Gift" nennt Winshluss den 2009 in Angoulême als bestes Album ausgezeichneten "Pinocchio". Aus dem gutmütigen Schnitzer Gepetto ist ein geldgeiler Erfinder geworden, aus dem Holzpüppchen ein Kampfroboter. Statt einer Gewissensgrille, die den Holzkopf leitet, bringt ihn nun der im Blechschädel hausende Säufer Jiminy Wanze auf Abwege. Die Nase, die beim Lügen wächst, ist zum Flammenwerfer umfunktioniert.

Geschwindelt wird natürlich weiterhin. Auch vom Künstler: Winshluss stellt "Pinocchio" als "sehr freie Adaption des gleichnamigen Romans von Carlo Collodi" vor, parodiert dann aber vor allem Walt Disneys Kinoversion und lässt am Rande auch gleich noch Onkel Walts Schneewittchen von sieben Perverslingen begrabschen. Er schießt Pinocchio per Rakete in den Arsch von Méliès Mond, um wenig später verblüffend liebevoll "Superman" zu zitieren. Die Scherze in diesem Popmythenpotpourri sind mal pubertär (Gepettos lüsterne Gattin), mal brillant (im Spielzeugland verwandeln sich die Kinder diesmal nicht in Eselchen, sondern in faschistische Werwölfe).

Winshluss' "Pinochio" erscheint als dicker Prachtband mit trügerisch nostalgischem Cover*. Die "Pralinen" im Innern sehen zunächst reichlich matschig aus: Rotzige Underground-Pinselei dominiert, doch bald stößt man auf prachtvolle Aquarellpanoramen, feine Radierungen, coole Info-Comics. Das Schönste aber: Winshluss erschafft einen riesigen Geschichtenkosmos, spendiert selbst absurden Nebenfiguren (etwa einem beseelten Roboterauge!) eigene Handlungsstränge und verknüpft sie am Ende elegant. Eine um so größere Leistung, als "Pinocchio" gänzlich ohne Worte auskommt – wenn nicht gerade Jiminy Wanze oder der im Fall "Pinocchio" ermittelnde (auch sehr seltsame) Kommissar ihren Weltekel herausschreien.

Winshluss begann bereits 2003 mit "Pinocchio", unterbrach die Arbeit aber wegen eines kleinen Nebenprojekts: 2007 unterstützte er Marjane Satrapi unter seinem echten Namen Vincent Paronnaud als Co-Regisseur von "Persepolis".

* Sieht man genauer hin, erkennt man, dass die Frakturlettern des Titels lichterloh brennen.

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Mittwoch, 17. Februar 2010
Was vom Jahre übrig blieb:
Meine Comic-Favoriten 2009 – Platz 6

Der kleine Christian

Text und Grafik: Blutch
Verlag: Reprodukt

© 1998,2008 Blutch & L'Association
© 2009 Reprodukt

Im Januar 2009 gewann Blutch die höchste Auszeichnung des Comic-Festivals von Angoulême. Im Januar 2010 leitet er die Jury dieser renommiertesten aller Neunte-Kunst-Sausen. Dazwischen kam er in Deutschland an. Endlich. Denn wie sein virtuos zwischen Zeichenstilen und Zeichenebenen wechselndes Adoleszenz-Epos "Der kleine Christian" beweist, hat der in Frankreich seit Ende der 80er erfolgreiche Künstler uns eine Menge zu sagen. Mit "uns" meine ich weniger "uuuns Deutsche" – wobei der Grundschüler Christian als Elsässer diesen Nachbarn und Filmschurken mit höchst komplexen Gefühlen begegnet. Nein, mit "uns" meine ich vor allem die "Generation Yps", die heute einen großen Teil der Graphic-Novel-Käufer stellen und sich im 70er-Jahre-Kind Christian sofort wiedererkennen dürfte. Nicht allein, wenn Christian die "Yps"-Vorlage "Pif Gadget" verschlingt, sondern auch wenn er als Lucky Luke den Rhein überquert (mental, auf Papas Rücksitz) oder sich in die Umkleidekabine der "Drei Engel für Charlie" fantasiert.* Àpropos Frauen: Um sie geht es in der zweiten (zehn Jahre später entstandenen) Hälfte des Bandes dann ausschließlich. In einer zum Weinen komischen Szene erklärt ein imaginierter Marlon Brando dem Teenie Christian die Liebe ("Ich seh's vor mir: Du gehörst zu denen, die den Frauen hinterherhecheln. Wuff! Wuff!"). Blutch, der als Christian Hincker im Elsass aufwuchs, behauptet übrigens, all das sei keineswegs autobiografisch. Das nimmt seinen Geschichten nichts von ihrer Wahrheit.

* Daneben stehen natürlich viele Anspielungen auf französische Popkultur, die in den sehr
hilfreichen Anmerkungen erklärt werden.


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Dienstag, 16. Februar 2010
Was vom Jahre übrig blieb:
Meine Comic-Favoriten 2009 – Platz 7

Aufzeichnungen aus Birma

Text und Grafik: Guy Delisle
Verlag: Reprodukt

© 2007 Guy Delcourt Productions – Delisle
© 2009 Reprodukt

Das Fest des Wassers. Die Straße der Tinte. Die Stadt der Fixer.
Nein, man kann wirklich nicht behaupten, dass Guy Delisle in seinen "Aufzeichnungen aus Birma" nur das erzählt, was man schon aus den Nachrichten kennt. Nachdem das globalisierte Trickfilmbusiness den Kanadier nach China und Nordkorea verschlagen hatte, folgte er 2005 seiner für "Ärzte ohne Grenzen" arbeitenden Frau samt dem kleinen Sohn nach Rangun (zwei Jahre vor dem "Aufstand der Mönche" und dessen Niederschlagung). Seine dritte Comic-Reportage aus einer fernöstlichen Diktatur liest sich süffiger als die Vorgänger. Statt großer Bögen bevorzugt er nun knackige Episoden, der raue Strich und die lockeren Layouts sind einem sauberen, aufgeräumten Look gewichen. Kein Zufall: Delisle will so den sauberen, aufgeräumten Look dieser brutalen Diktatur wiedergeben. Er mache keine Dokus, sagt der Künstler: "Ich schildere die Länder so, wie ich sie gesehen habe". Als junger Vater ist sein Blick milder geworden. Über die höfliche Gängelung "ausländischer Gäste" reflektiert er nur am Rande. Verglichen mit dem schwermütigen "Shenzhen" und dem aggressiven "Pjöngjang" ist dies nur "Delisle light" – aber just deshalb der ideale Band für Delisle-Einsteiger.

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Montag, 15. Februar 2010
Was vom Jahre übrig blieb:
Meine Comic-Favoriten 2009 – Platz 8

Prosopopus

Text und Grafik: Nicolas de Crécy
Verlag: Reprodukt

© Dupuis 2009, by de Crécy
© 2009 Reprodukt


"The Angriest Dog in the World", der Comic von David Lynch, wirkt auf den ersten Blick nicht unbedingt wie ein Comic von David Lynch. "Prosopopus" dagegen wirkt exakt wie ein Comic von David Lynch, ist aber von dem französischen Zeichner und Trickfilmer Nicolas de Crécy. In einem fiebrig hingestrichelten New York wird auf offener Straße ein mächtiger Mann erschossen. Der Täter kann fliehen. Wenig später aber sucht ihn eine seltsame Gestalt heim: ein obszön fleischiger Riesenteddy mit Windel und Clownsgesicht. Während dieser "Prosopopus" als Lover, Schutzengel und Richter agiert, erfahren wir die Vorgeschichte – ohne dass im gesamten Band eine einzige Sprechblase aufpoppt. Wer de Crécys wortlosen Comic nicht verstörend genug findet, dem beschert spätestens Laetitia Bianchis beigefügter Text zur "Historie" des Prosopopus eine Gänsehaut.

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Samstag, 13. Februar 2010
Was vom Jahre übrig blieb:
Meine Comic-Favoriten 2009 – Platz 9

Hector Umbra

Text und Grafik: Uli Oesterle
Verlag: Carlsen

© 2009 Carlsen Verlag GmbH

"La Bohème" auf LSD: In Uli Oesterles Graphic Novel um einen unfreiwilligen Detektiv und eine Verschwörung unsichtbarer Großkopferter wird gebechert, geraucht, getanzt und geliebt, Kunst an der Staffelei und am DJ-Pult fabriziert, vor allem aber ein München erkundet, dass mehr mit Twin Peaks und Orpheus' Unterwelt gemein hat als mit Hofbräuhaus und Wiesn. Trotz vieler Verweise auf reale Wahrzeichen und Szene-Hotspots umschifft der wunderbar dunkelbunt kolorierte Mysterykrimi die Klippen des Regionalhumors. Stattdessen erschafft Oesterle die Isarstadt neu, ohne Lineal und auch sonst ziemlich schräg. Das erste Kapitel erschien 2003 als Album bei Edition 52, das komplette Werk sechs Jahre später bei Carlsen. Die Zeitspanne macht deutlich, wie es um die Möglichkeiten der Comic-Produktion in Deutschland bestellt ist. Um so erfreulicher aber, dass "Hector Umbra" auch zeigt, was in deutschen Comics möglich ist.

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