Meine Comic-Favoriten 2009 – Platz 5
Pinocchio
Text: Winshluss
Grafik: Winshluss (Vorzeichnung, Tusche), Cizo u. a. (Farben)
Verlag: avant
© 2008 Winshluss/Edition les Réquins Marteaux
© 2009 avant-verlag
"Eine schöne Schachtel Pralinen... voller Gift" nennt Winshluss den 2009 in Angoulême als bestes Album ausgezeichneten "Pinocchio". Aus dem gutmütigen Schnitzer Gepetto ist ein geldgeiler Erfinder geworden, aus dem Holzpüppchen ein Kampfroboter. Statt einer Gewissensgrille, die den Holzkopf leitet, bringt ihn nun der im Blechschädel hausende Säufer Jiminy Wanze auf Abwege. Die Nase, die beim Lügen wächst, ist zum Flammenwerfer umfunktioniert.
Geschwindelt wird natürlich weiterhin. Auch vom Künstler: Winshluss stellt "Pinocchio" als "sehr freie Adaption des gleichnamigen Romans von Carlo Collodi" vor, parodiert dann aber vor allem Walt Disneys Kinoversion und lässt am Rande auch gleich noch Onkel Walts Schneewittchen von sieben Perverslingen begrabschen. Er schießt Pinocchio per Rakete in den Arsch von Méliès Mond, um wenig später verblüffend liebevoll "Superman" zu zitieren. Die Scherze in diesem Popmythenpotpourri sind mal pubertär (Gepettos lüsterne Gattin), mal brillant (im Spielzeugland verwandeln sich die Kinder diesmal nicht in Eselchen, sondern in faschistische Werwölfe).
Winshluss' "Pinochio" erscheint als dicker Prachtband mit trügerisch nostalgischem Cover*. Die "Pralinen" im Innern sehen zunächst reichlich matschig aus: Rotzige Underground-Pinselei dominiert, doch bald stößt man auf prachtvolle Aquarellpanoramen, feine Radierungen, coole Info-Comics. Das Schönste aber: Winshluss erschafft einen riesigen Geschichtenkosmos, spendiert selbst absurden Nebenfiguren (etwa einem beseelten Roboterauge!) eigene Handlungsstränge und verknüpft sie am Ende elegant. Eine um so größere Leistung, als "Pinocchio" gänzlich ohne Worte auskommt – wenn nicht gerade Jiminy Wanze oder der im Fall "Pinocchio" ermittelnde (auch sehr seltsame) Kommissar ihren Weltekel herausschreien.
Winshluss begann bereits 2003 mit "Pinocchio", unterbrach die Arbeit aber wegen eines kleinen Nebenprojekts: 2007 unterstützte er Marjane Satrapi unter seinem echten Namen Vincent Paronnaud als Co-Regisseur von "Persepolis".
* Sieht man genauer hin, erkennt man, dass die Frakturlettern des Titels lichterloh brennen.