Jeff Smith' neue Serie "RASL"
Sci-Fi-Gauner RASL bleibt selten Zeit,
sich auf seine vier Buchstaben zu setzen
(© 2008 Jeff Smith)
Im Herbst 1994 bastelte ich in Hannover an meiner Magisterarbeit. Während der Abgabetermin immer näher rückte, begriff ich beim Schreiben allmählich, dass ich für eine Untersuchung zur Semiotik viel zu wenig Ahnung von Semiotik hatte. Dennoch oder gerade deswegen ließ ich mich immer wieder gern von drei bleichen, knubbelnasigen Comic-Helden ablenken. Ich hatte Jeff Smith' Serie "Bone" entdeckt.
Die ersten beiden US-Bände, die damals vorlagen, boten mit ihrer süffigen Mischung aus epischer Fantasy und aufgekratztem Humor etwas völlig Neues. (Aufmerksam geworden war ich, wie wohl die meisten deutschen Leser, allerdings durch die im selben Jahr gestartete Carlsen-Übersetzung).
Irgendwie bekam ich die Arbeit dann doch noch fertig, und da es darin um Comics ging, konnte ich sogar einige Bildbeispiele aus meiner Lieblingsserie unterbringen. Als ich einige Jahre darauf endlich den dritten Ami-Band in Händen hielt, merkte ich jedoch, dass auch Mr. Smith nur mit Wasser kocht: Er führte die drei "Bone"-Cousins plötzlich auf ziemlich ausgelatschte Fantasy-Pfade. Immerhin blieb er ein guter Erzähler, und ab Band 7 wurde die Story sogar wieder origineller, also zuckelte ich mit. Bis 2004, als Smith nach über 1300 Seiten die letzte "Bone"-Seite zeichnete.
Dann brachte der Meister erst einmal eine kolorierte Version seiner Saga heraus und vergnügte sich mit der Miniserie "Shazam! – The Monster Society of Evil", einer betont naiven Hommage an die klassischen "Captain Marvel"-Comics – beides nicht wirklich spannend. Doch dann, Mitte 2007, präsentierte Smith auf der Comic Con in San Diego sechs Seiten einer neuen längeren Serie: "RASL".
Heft 1 ist im März 2008 erschienen (ich habe es während meiner Neuseelandreise in Wellington gekauft), Nummer 2 soll noch diesen Monat folgen. Und obwohl "RASL" sicher nicht die Offenbarung ist, die "Bone" seinerzeit war, bin ich auf die zweite Ausgabe wesentlich gespannter als auf die erste. Denn vor "RASL No. 1" wusste ich ja nicht, dass Smith tatsächlich etwas Neues wagen würde und das in vielerlei Hinsicht.
Dabei bleibt sich Smith auf den ersten Blick durchaus treu: "RASL" entstammt wie "Bone" dem großen Genre der Phantastik, erscheint in Schwarzweiß und kommt wie der größte Teil von "Bone" in Smith' eigenem Verlag "Cartoon Books" heraus. Die erste "RASL"-Seite zitiert sogar den Anfang von "Bone": hier wie dort irrt der Protagonist erschöpft durch eine karge Landschaft.
Es sind die Unterschiede zum humorvollen Märchen "Bone" und dessen gutherzigen Helden, die "RASL" spannend machen. Der Titelheld ist ein übellauniger Kunsträuber mit leicht neanderthalesken Zügen. RASL raucht, säuft, flucht und schlägt im Zweifelsfall lieber einmal zu oft zu. "Definitely not a good guy", warnte Smith in einem Podcast-Interview auf "comiXology" und fügte noch hinzu, diesmal plane er keine Geschichte "für die ganze Familie".
RASL (laut Smith ein Hacker-Name) kann dank einer selbst konstruierten Plasma-Apparatur durch die Dimensionen reisen, wobei die Ankunft stets extreme Schmerzen verursacht. Seine Brötchen verdient er, indem er in anderen Welten Gemälde klaut, beauftragt von reichen Kunstsammlern aus unserer Dimension. Problematisch wird’s, als RASL bei seiner Rückkehr in der falschen Dimension landet.
Während Smith in "Bone" die auktoriale Erzählperspektive wählte, gibt er die Geschichte diesmal – zumindest in Heft 1 - als Bewusstseinsstrom des Protagonisten wieder. Smith nennt u. a. den Film noir als Inspiration. Dieser Einfluss schlägt sich in RASLs lakonischem Off-Kommentar ebenso nieder wie in der Rückblendenstruktur der Erzählung und den expressionistischen Schatten der Grafik.
Nun: All das ist auch im Comic längst nicht mehr neu, auch nicht in der Kombination mit Sci-Fi. Doch während Smith in "Bone" und "Shazam!" sein perfektes Gespür für Timing stets in den Dienst eines geschmeidigen Erzählflusses stellte, wagt er in "RASL" Experimente: Aus dem Mond, unter dem RASL zu Beginn blutend durch eine Wüste wandert, macht Smith per Match Cut einen Kiesel, der in einen See fällt. Erst einige Seiten später wird klar, dass RASL selbst diesen Kiesel geworfen hat – allerdings nur in seinem Kopf, denn das ganze dient lediglich zur Konzentration. Deshalb "schneidet" Smith das Eintauchen des Kiesels alternierend mit RASLs Einbruch beim Besitzer eines Picassos und der anschließenden Flucht.
Während Smith bei Layout und Montage wie gewohnt brilliert, wirken seine Zeichnungen diesmal streckenweise erstaunlich schludrig. In einigen Panels sitzen RASLs mächtige Arme und Schultern an einem erstaunlich dürren Rumpf, kurz darauf wirkt sein Körperbau dann wieder ausgewogen. Tatsächlich fallen diese Fehler derart auf, dass ich mich frage, ob Absicht dahintersteckt.
Der Gedanke erscheint nicht ganz so abwegig, wenn man die Entstehungsgeschichte von RASL kennt: Auf die Idee des interdimensionalen Diebes kam Smith, als er vor einigen Jahren mit den befreundeten Künstlern Frank Miller und Paul Pope eine Science-Fiction-Anthologie plante. Das Projekt zerschlug sich, doch Smith behielt seine Idee im Hinterkopf. Im bereits erwähnten „comiXology“-Interview erklärt Smith wieso: Erstens wollte er – wie Miller in seiner "Sin City"-Reihe – schon lange eine Geschichte mit einem Schurken als Helden erzählen. Zweitens wollte er sein Interesse an Science-Fiction und moderner Physik einbringen – beides prägt auch die Comics von Paul Pope ("THB", "Batman: Year 100"). Womöglich ist "RASL" also auch als Hommage an die Kollegen gedacht. Die Grafik scheint das zu bestätigen: Wie Miller zitiert Smith die Noir-Ästhetik, zugleich schwingt in seinem Strich oft der lockere, rotzige Stil von Pope mit.
2007 hatte Jeff Smith angekündigt, "RASL" werde in einem den europäischen Alben ähnlichen Großformat erscheinen. Weil das im Druck zu hakelig und teuer geworden wäre, bringt er die Serie jetzt leider doch nur im Standard-Heftformat heraus. Smith sagt, er wolle sich dem "Bone"-Nachfolger mindestens drei Jahre widmen, allerdings habe er die Geschichte bewusst noch nicht bis ins letzte Detail durchgeplant und möchte erst einmal drauflos erzählen. Vielleicht werden also wie beim Vorgänger 13 Jahre draus.
"RASL No. 1"
Text und Grafik: Jeff Smith
Cartoon Books 2008; 34 Seiten, $ 3,50.