Sonntag, 15. Februar 2009
Best of 2008
Platz 1: "Ein neues Land"
Text und Grafik: Shaun Tan;
Verlag: Carlsen

[Zu Platz 2]

(© 2006 Shaun Tan;
Dt. Ausgabe: © 2008 Carlsen)


Die Begeisterung, die sein Buch international ausgelöst habe, überrasche ihn doch sehr, sagt Shaun Tan. Fern seiner Heimat Australien hat es ihm Anfang 2008 auf dem Comic-Festival von Angoulême den Preis für das Beste Album eingebracht (quasi die Goldene Palme der Comic-Welt). In Amerika öffnete es ihm die Tür zum Trickstudio Pixar, wo er Müll-Landschaften für das Robotermärchen "Wall-E" entwarf.

"Ich bin immer davon ausgegangen, dass man 'Ein neues Land' als eine Art Kuriosität betrachtet, die angesichts der unkonventionellen Form erst nach einer Weile ihr Publikum finden würde." Vielleicht übte Tan sich in seinem Interview mit dem "Comics Journal" ja in Bescheidenheit. Vielleicht sagte er auch einfach die Wahrheit. Denn "Ein neues Land", in Australien 2006 als "The Arrival" erschienen, ist sicher eine der ungewöhnlichsten Graphic Novels.

Tan setzt sich mit seinem Werk zwischen alle Stühle – und schwebt! "Ein neues Land" ist ein Bilderbuch, aber nichts für kleine Kinder. Es ist eine Utopie, die vom Gestern erzählt. Es ist Avantgarde mit nostalgischer Anmutung. Cover und Anordnung der Panels imitieren ein altes Fotoalbum, die Bilder und Bildfolgen selbst zitieren den Stummfilm, hinter dem Fotorealismus der Gesichter verbergen sich feinste Bleistiftschaffuren.

Was "Ein neues Land" vielleicht nicht ist: ein Comic. Jedenfalls nicht, wenn man Sprechblasen als unabdingbaren Teil der Definition betrachtet. Die Geschichte teilt sich gänzlich ohne Worte mit, durch Gesten und Mimik, Bildaufbau und Montage. Mitunter überlässt Tan es aber auch dem Leser, sich in einem riesigen Wimmelbild voll verwirrender Formen allein zu orientieren und so die Fremdheitserfahrung des Helden nachzuvollziehen. Gleichwohl bilden Sprache und Schrift, ihre trennende und verbindende, ihre wahrnehmungsprägende und sinnschaffende Funktion das Hauptthema des Buches. Es wimmelt nur so von Schriftzeichen – allerdings entstammen sie keiner bekannten Sprache. Sie wirken so fremd wie die Flugbusse, Kringelpflanzen und Vogelfische dieser neuen Welt.

Wie schon bei Platz 3 dieser Liste warne ich lieber vor: Wer "Ein neues Land" für sich allein entdecken will, sollte jetzt erst einmal das Buch lesen. Wie bei allen wahren Meisterwerken bereitet es auch hier bei der ersten Lektüre um so mehr Vergnügen, je weniger man weiß, und bei jeder weiteren, je mehr. Ab dem nächsten Absatz jedenfalls wird – in Maßen – gespoilert.

Es passt, dass Tans bisher anspruchsvollstes Werk bei uns etwas verspätet im krummen "Kafka-Jahr" 2008 erschienen ist, einige Monate nach dem 125. Geburtstag des größten aller Literaturneurotiker. Wie Kafkas Werke drehen sich auch Tans Bücher ständig um Entfremdung und Einsamkeit, Angst und Verwirrung. Vertrautes wirkt plötzlich monströs, die Protagonisten irren durch ein System, das in sich funktioniert, von außen aber gänzlich unverständlich arbeitet.

Nun hat Shaun Tan, der im australischen Perth aufwuchs, sicher mehr Sonnentage erlebt als der Prager Kafka. Zudem erschafft Tan seine im angelsächsischen Raum längst legendären Bilderbücher auch für Kinder. Und so wirken seine Geschichten wie die optimistischeren, wenn auch niemals naiven Geschwister der klassischen Kafka-Erzählungen.

In "The Red Tree" lässt Tan ein Mädchen durch überwältigende Symbolbilder für Depressionen irren: ein chaotisches Gewoge von Dickschiffen, die deinen mickrigen Kahn zu zerschmettern drohen, ein grausiges Theater, in dem komischerweise jeder dich in der Rolle des Monsters sieht. Tans vielleicht freundlichstes Werk ist "The Lost Thing". Darin wurtschtelt sich eine Kreuzung aus Krake und Dampfmaschine, die sich von altem Christbaumschmuck ernährt, mit Hilfe eines Jungen durch eine seelenlose Konsum- und Paragraphenwelt, bis sie eher zufällig an einem geheimen Ort für andere verlorene Dinger landet. Man muss gar nicht Kafka bemühen: Wäre Philip K. Dick mit dem DDR-Sandmännchen aufgewachsen, könnte diese Story auch von ihm sein.

Das Gefühl, nicht "dazu" zu gehören, kennt Shaun Tan von Kindesbeinen an. 1974 als Sohn einer Australierin europäischer Herkunft und eines chinesischen Einwanderers geboren, sah sich Tan in der Schule plumpem Rassismus ausgesetzt. Zum Gefühl der Isolation trug bei, dass er in einem abgelegenen Vorort des ohnehin abgelegenen Perth aufwuchs, "einer der isoliertesten Städte der Welt, eingeklemmt zwischen einer gewaltigen Wüste und einem noch gewaltigeren Ozean", erinnert sich Tan auf seiner – übrigens exzellenten – Website. So entwickelte Tan früh Sympathie für die australischen Ureinwohnern: Fremde im eigenen Land. Später inspirierte die Situation der Aborigines ihn und den Autor John Marsden zu der düsteren Parabel "The Rabbits". In ihrer Bitterkeit wirkt sie wie ein Komplementärwerk zum warmherzigen "Ein neues Land".

Tans subtiler Bildroman ist, wie es der US-Comicstar und Einwandersohn Gene Yang ("American Born Chinese") auf den Punkt bringt, "nicht die Geschichte eines Immigranten, sondern die Geschichte des Immigranten". Er basiert auf Anekdoten von Tans Vater und den Erlebnisberichten anderer Einwanderer, jedoch kann die Hauptfigur für jeden stehen, der Vertrautes aufgeben muss und Neu-Land betritt.

Tans Protagonist lässt Frau und Tochter einstweilen in der düsteren Heimat zurück, um jenseits des Ozeans ein neues, besseres Zuhause zu suchen. Die neue Heimat präsentiert sich zunächst verheißungsvoll, im mächtigen Hafen reichen zwei Freiheitsstatuen sich, auf Augenhöhe miteinander, die Hände.

Doch kaum von Bord gegangen, versteht der Held die Welt nicht mehr: Sprache und Symbole sind ihm fremd, durch die Aufnahmeprozedur gelangt er mit mehr Glück als Verstand. Als er hungrig Brot zu kaufen versucht, bietet man ihm statt dessen seltsame Gemüse an: Brot ist unbekannt. Bald erkennt er auch, dass unter der leuchtenden Oberfläche gigantische, ölverschmierte Maschinen schnaufen, die Arbeiter zum Teil des Mechanismus degradieren.

Aber es gibt ein Leben jenseits des Räderwerks. Immer wieder ist der Einwanderer auf die Freundlichkeit von Fremden angewiesen, Migranten wie ihm, nun Bürger des neuen Landes, und er trifft dabei auf große Herzlichkeit. Die allerdings gründet stets in überwundenem Schrecken: Die neuen Freunde sind einst selbst Not, Versklavung oder Völkermord entkommen.

Daraus hätte nun ebenso gut gemeinter wie unerträglicher Betroffenheitskitsch werden können. Statt dessen wirkt das fremde Land auf den Leser so überraschend, fesselnd und faszinierend wie auf die Hauptfigur. Das liegt im Wesentlichen an Tans intelligentem Einsatz von Metaphern. Tan legt Wert darauf, dass seine Bilderbuch-Universen als Parallelwelten verstanden werden, die unabhängig von unserer Realität existieren, aber einer ähnlichen Logik folgen. Darin konstruiert er Beziehungen zwischen fiktiven Figuren und ihrer Umwelt, die jenen zwischen realen Menschen und deren Umgebung ähneln. Eindeutige "Sinnbilder" hingegen meidet er.

Die wundersamen Maschinen und Tiere des neuen Landes sind weit mehr als nur exotische Dekors. Sie ermöglichen es dem Leser, den Prozess der Annäherung nachzuvollziehen. Dabei geht Tan sehr geschickt und charmant vor: Kaum hat der Protagonist etwa eine Bleibe in einem riesigen Wohnblock gefunden, springt ihm aus einem Gefäß ein unheimliches Ding entgegen – ein skurriles Mischwesen aus Maus und Hai (Tan griff dabei auf die Schockbegegnung seiner Freundin mit einer Ratte zurück). Da das Geschöpf eher verspielt als gefährlich wirkt und sich ohnehin nicht vertreiben lässt, toleriert der Einwanderer es zunächst widerwillig in seiner Nähe. Später akzeptiert er es als ständigen Begleiter, der ihm bei der Kontaktaufnahme mit anderen Stadtbewohnern hilft, und gewinnt es, wie der Leser, sogar lieb.

Fast fünf Jahre hat Shaun Tan an "Ein neues Land" gearbeitet und bei aller Schwerelosigkeit der Erzählung spürt man die Überlegung und Sorgfalt in jedem einzelnen Bild. Aber ist es nun ein Comic? Vielleicht nicht. Fest steht jedoch: An Tans Buch müssen sich "echte" Comics künftig messen lassen.

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