Samstag, 6. Dezember 2008
The Importance of Seeing Ernst
"Une semaine de bonté" in der Hamburger Kunsthalle


Zusammenfügen, um zu zerstören:
Max Ernst holt die Teufel in den Salon.
Aus: "Une semaine de bonté".

(© 2008 VG Bild-Kunst)


"Diese Folge von 182 Stich-Collagen gilt allgemein als ein Meisterwerk der Kunst des 20. Jahrhunderts, aber keinem Dozenten für Kunstgeschichte würde es im Traum einfallen, sie als Comic zu bezeichnen!" entrüstet sich Scott McCloud in seinem Standardwerk "Comics richtig lesen". Und McCloud ist bei weitem nicht der einzige, der Max Ernsts 1934 erschienenen Collage-Roman "Une semaine de bonté" als Meisterwerk der Neunten Kunst verbucht wissen möchte. Nein, andere Freunde des Mediums sehen die "Semaine" gar als einen der besten Comics.

Comic oder kein Comic? Mit dieser Frage im Kopf tippelte ich Mitte September durch die "Galerie der Gegenwart" der Hamburger Kunsthalle. Bis zum 11. Januar 2009 sind dort noch sämtliche Original-Collagen der "Semaine" zu studieren (wie zuvor schon in der Wiener Albertina und im Max Ernst Museum Brühl).

Mein Museums-Trip ist nun schon wieder einige Monate her, aber erstens läuft die Ausstellung ja noch ein Weilchen, und zweitens erstellte Max Ernst die Bildfolgen der "Semaine" ohnehin für die Hand, nicht für die Wand. Soll heißen: als Druckerzeugnis zur Lektüre, nicht zur Oberflächen-Analyse im Museum. Er bestand darauf, dass die "Nähte bei den geklebten Arbeiten in der Reproduktion verwischt werden", damit die per Skalpell, Schere und Leim vereinten Elemente wie eine Einheit wirken.

Gehen wir einmal wie McCloud davon aus, dass Comics nicht per definitionem Sprechblasen benötigen und dass "Comic" nur ein lustigeres Wort für "narrative Bildsequenzen" ist. Geht die "Semaine" dann als Comic durch? Ich fürchte, die Antwort lautet: Jein.

Nur einmal ließ sich Ernst zu Lebzeiten zu einer Ausstellung der kompletten "Semaine" bewegen. Im Museo Nacional de Arte Moderna in Madrid fehlten 1936 dann aber fünf Blätter, offenkundig wegen religionskritischer Motive. In der aktuellen Ausstellung sind nun erstmals alle 182 Seiten zu sehen, hinzu kommen zwei "deleted scenes".

Übrigens trägt die Ausstellung in recht reizvoller Weise durchaus der Tatsache Rechnung, dass die "Semaine" zur Lektüre vorgesehen ist: Sie lässt den Besucher durch die fünf Original-Hefte wandeln, in denen die "Semaine" 1934 erschien (Band 5 enthielt die letzten drei Tage der "Woche"). Die Wände tragen die Farben der Heft-Umschläge, man beginnt am Sonntag in Violett und endet am Samstag in Gelb. (Als Inspiration gilt Rimbauds synästhetisches Gedicht "Vokale".)

Die "Semaine" gilt als Reaktion auf den Aufstieg des Faschismus, als Vision einer Welt im Chaos. Einige Monate nach Hitlers "Machtergreifung" reiste Max Ernst nach Italien, um den Sommer bei der befreundeten Gräfin Ruspoli auf dem Castello di Vigoleno in der Emiliana zu verbringen. Ernst schleppte einen Koffer voll illustrierter Trivialromane, Kataloge und Sachbücher mit aufs Schloss, Altpapier aus dem vorigen Jahrhundert. Bei einem Zwischenstopp in Mailand hatte er zudem eine von Gustave Doré illustrierte Ausgabe von Miltons "Das verlorene Paradies" erworben.

Als die Künstlerin Valentine Hugo, ebenfalls auf Vigoleno zu Gast, eines frühen Morgens erwachte, beunruhigte sie ein seltsames Geräusch: Aus dem Zimmer nebenan drang ein ominöses Klappern. Wiederum etwas später entdeckte sie das "Verlorene Paradies": Allen Engeln und Teufeln darin hatte man die Flügel abgeschnitten.

Eine feinnervige Dame der Gesellschaft, die in einem alten Gemäuer auf unheimliche Geheimnisse stößt – diese Szene könnte aus "Une semaine de bonté" stammen. Im Zimmer nebenan schnippelte wie besessen Max Ernst und klebte binnen dreier Wochen zusammen, was nicht zusammengehört. (Das "Klappern" rührte vom Ablegen der Schere her.)

Dorés Schwingen etwa verwandeln die Illustrationen eines Salon-Dramoletts in einen unverschämten Tanz der Vampire, an dessen Rändern sich ekle Lindwürmer ringeln. Der "Lion de Belfort", eine patriotische Statue des Freiheitsstatuen-Schöpfers Bartholdi, zieht als löwenköpfiges Monstrum schändend, folternd und mordend durch Paris, bevor er auf dem Schafott landet, sich dort aber zum Henker aufwirft und wenig später wieder frei durch die Landschaft tobt. Die Falten seidener Bettwäsche verwandeln sich in reißende Sintfluten, die durch die Schlafzimmer schöner Frauen rauschen und in denen mancher Mann untergeht. Und so weiter. Bis sich am siebten Tage dann alles im "Unbekannten" auflöst und dralle Damen in ein nebelumwabertes Nichts gesaugt werden.

Was ich hier als auszugsweisen Inhalt der Semaine geschildert habe, ist freilich nicht mehr als eine streckenweise schon ziemlich gewagte Interpretation. Die Bilder in Ernsts Collageroman sind vieldeutig, und obwohl der Künstler eine feste Reihenfolge vorgibt, bleibt es weitgehend dem Leser überlassen, sich aus den surrealen Traumbildern eine Geschichte zusammenzuassoziieren.

Der Titel "Une semaine de bonté", heute meist als "Eine Woche der Güte" übersetzt, von Ernst aber als "Die weiße Woche", spielt ironisch auf "La semaine de la bonté" an, zu der eine Wohltätigkeitsorganisation im Paris der frühen 30er-Jahre mit knalligen Plakaten aufgerufen hatte. Der Titel ist ein böser Witz, reflektiert die alptraumhafte Welt in Ernsts Bildroman doch, wie schon gesagt, den Aufstieg des Faschismus.

Angesichts der starken antiklerikalen Tendenz des Surrealismus, liegt es nahe, die "Semaine" als pervertierte Schöpfungswoche zu betrachten. Sie beginnt am Sonntag und endet am Sabbat, den Tagen sind sieben "éléments capitaux" zugeordnet, in Anlehnung an die sieben "péchés capitaux" (Todsünden). Dabei steht neben den klassischen Elementen Feuer und Wasser Seltsames wie das Blut und die Sicht.

Jedes Element wird anhand eines "exemple" illustriert, das Dienstags-Element Feuer etwas durch die Geschichte "La cour du dragon". Doch was am Sonntag im elementaren Urschlamm ("La boue") beginnt, endet am Samstag nicht in einer wohlgeordneten Schöpfung, sondern im "Unbekannten" ("L'inconnue"). Auch erklären die Titel der Beispiele ("Le lion de Belfort", "La cour du dragon") wenig bis nichts. Sie sind nur das erste Glied einer Assoziationskette, die der Leser selbst schmieden muss.

Als wäre das nicht verwirrend genug, spielt Ernst auch noch mit Abbildungen innerhalb der Abbildungen: Er ersetzt Gemälde oder Paravent-Muster in den Stichen durch passend zugeschnittene neue Motive und macht so den Akt des Betrachtens selbst zum Thema.

Es erfordert Konzentration, die "Semaine" zu lesen und nicht nur darin zu blättern bzw. flüchtigen Blicks durch die Ausstellung zu schlendern. Natürlich nicht, weil das makabre "Sex & Crime"-Treiben der Bilder langweilig wäre, sondern weil es das lesepsychologische Pendant zum besoffenen Ritt auf dem elektrischen Bullen darstellt. Die "Geschichte" bockt, springt und bewegt sich nie so, wie man es gern hätte. Ständig droht sie, den Leser abzuwerfen.

Grund dafür ist der Mangel an visueller Kohärenz. Da Ernst seine ausgeschnippelten Komponenten ja noch nicht nach Lust und Laune am Rechner spiegeln, skalieren oder verzerren konnte, tauchen in seinen Bildfolgen zwar häufig ähnliche, selten aber die gleichen Vogelköpfe oder Löwenhäupter auf. Umgekehrt erzielt Ernst durch das Spiel mit Ähnlichkeiten verblüffende Effekte. Zum Beispiel, wenn er einen Mann auf einen Sessel eindreschen lässt, dessen Polsterung fast exakt dem Panzer jenes Gürteltiers gleicht, das im vorigen Bild über den Rücken einer Frau kriecht.

In der Kombination mit surrealen Elementen wie eigenwillig applizierten Geschlechtsorganen oder jenen Riesenhänden, die, mit Messern bewaffnet, aus Fenster vorstoßen, verbindet viele Bilder aber nur eine ähnliche Kulisse, ein Thema oder eine Stimmung. Dies gilt selbst für die Dienstags-Sequenz "Le cour du dragon", zwischen deren Szenen noch der stärkste Zusammenhang besteht, da Ernst hier im wesentlichen Szenen aus dem Kolportageroman "Martyre" von Alphonse d'Ennery neu anordnet und mit den schon erwähnten Engels- und Teufelsschwingen von Doré verfremdet.

All dies sind natürlich ziemlich banale Feststellungen, denn all dies ist von Ernst so gewollt und macht den Reiz der "Semaine" aus. Allerdings nimmt es wunder, dass die eben beschriebenen Merkwürdigkeiten weder bei McCloud Erwähnung finden noch bei jenen anderen Comic-Freunden, die Ernsts Werk als frühe "Graphic Novel" einordnen. Denn die "Semaine" ist zugleich Roman und Anti-Roman. So wie ihre Collage-Bilder Kirche, Vaterland und die "guten Sitten" angreifen, so attackiert das gesamte Werk auch die traditionelle Vorstellung vom Erzählen.

Paradoxerweise entwickelt die "Semaine" just hierin Kohärenz: Sie ist die durchweg stringente Geschichte des Lesers, der, vom Autor provoziert, durch diese "Woche der Güte" irrt.



Die Ausstellung "Une semaine de bonté" in der Hamburger Kunsthalle (Galerie der Gegenwart) läuft noch bis zum 11. Januar 2009.

Begleitbuch:
Werner Spies (Hg.): Max Ernst. Une semaine de bonté. Die Originalcollagen, Köln 2008 (DuMont), 320 Seiten.
29 Euro (Museums-Shop)
39,90 Euro (Buchhandel).