[Zu Platz 2]
(© 2006 Shaun Tan;
Dt. Ausgabe: © 2008 Carlsen)
Die Begeisterung, die sein Buch international ausgelöst habe, überrasche ihn doch sehr, sagt Shaun Tan. Fern seiner Heimat Australien hat es ihm Anfang 2008 auf dem Comic-Festival von Angoulême den Preis für das Beste Album eingebracht (quasi die Goldene Palme der Comic-Welt). In Amerika öffnete es ihm die Tür zum Trickstudio Pixar, wo er Müll-Landschaften für das Robotermärchen "Wall-E" entwarf.
"Ich bin immer davon ausgegangen, dass man 'Ein neues Land' als eine Art Kuriosität betrachtet, die angesichts der unkonventionellen Form erst nach einer Weile ihr Publikum finden würde." Vielleicht übte Tan sich in seinem Interview mit dem "Comics Journal" ja in Bescheidenheit. Vielleicht sagte er auch einfach die Wahrheit. Denn "Ein neues Land", in Australien 2006 als "The Arrival" erschienen, ist sicher eine der ungewöhnlichsten Graphic Novels.
Tan setzt sich mit seinem Werk zwischen alle Stühle – und schwebt! "Ein neues Land" ist ein Bilderbuch, aber nichts für kleine Kinder. Es ist eine Utopie, die vom Gestern erzählt. Es ist Avantgarde mit nostalgischer Anmutung. Cover und Anordnung der Panels imitieren ein altes Fotoalbum, die Bilder und Bildfolgen selbst zitieren den Stummfilm, hinter dem Fotorealismus der Gesichter verbergen sich feinste Bleistiftschaffuren.
Was "Ein neues Land" vielleicht nicht ist: ein Comic. Jedenfalls nicht, wenn man Sprechblasen als unabdingbaren Teil der Definition betrachtet. Die Geschichte teilt sich gänzlich ohne Worte mit, durch Gesten und Mimik, Bildaufbau und Montage. Mitunter überlässt Tan es aber auch dem Leser, sich in einem riesigen Wimmelbild voll verwirrender Formen allein zu orientieren und so die Fremdheitserfahrung des Helden nachzuvollziehen. Gleichwohl bilden Sprache und Schrift, ihre trennende und verbindende, ihre wahrnehmungsprägende und sinnschaffende Funktion das Hauptthema des Buches. Es wimmelt nur so von Schriftzeichen – allerdings entstammen sie keiner bekannten Sprache. Sie wirken so fremd wie die Flugbusse, Kringelpflanzen und Vogelfische dieser neuen Welt.
Wie schon bei Platz 3 dieser Liste warne ich lieber vor: Wer "Ein neues Land" für sich allein entdecken will, sollte jetzt erst einmal das Buch lesen. Wie bei allen wahren Meisterwerken bereitet es auch hier bei der ersten Lektüre um so mehr Vergnügen, je weniger man weiß, und bei jeder weiteren, je mehr. Ab dem nächsten Absatz jedenfalls wird – in Maßen – gespoilert.
Es passt, dass Tans bisher anspruchsvollstes Werk bei uns etwas verspätet im krummen "Kafka-Jahr" 2008 erschienen ist, einige Monate nach dem 125. Geburtstag des größten aller Literaturneurotiker. Wie Kafkas Werke drehen sich auch Tans Bücher ständig um Entfremdung und Einsamkeit, Angst und Verwirrung. Vertrautes wirkt plötzlich monströs, die Protagonisten irren durch ein System, das in sich funktioniert, von außen aber gänzlich unverständlich arbeitet.
Nun hat Shaun Tan, der im australischen Perth aufwuchs, sicher mehr Sonnentage erlebt als der Prager Kafka. Zudem erschafft Tan seine im angelsächsischen Raum längst legendären Bilderbücher auch für Kinder. Und so wirken seine Geschichten wie die optimistischeren, wenn auch niemals naiven Geschwister der klassischen Kafka-Erzählungen.
In "The Red Tree" lässt Tan ein Mädchen durch überwältigende Symbolbilder für Depressionen irren: ein chaotisches Gewoge von Dickschiffen, die deinen mickrigen Kahn zu zerschmettern drohen, ein grausiges Theater, in dem komischerweise jeder dich in der Rolle des Monsters sieht. Tans vielleicht freundlichstes Werk ist "The Lost Thing". Darin wurtschtelt sich eine Kreuzung aus Krake und Dampfmaschine, die sich von altem Christbaumschmuck ernährt, mit Hilfe eines Jungen durch eine seelenlose Konsum- und Paragraphenwelt, bis sie eher zufällig an einem geheimen Ort für andere verlorene Dinger landet. Man muss gar nicht Kafka bemühen: Wäre Philip K. Dick mit dem DDR-Sandmännchen aufgewachsen, könnte diese Story auch von ihm sein.
Das Gefühl, nicht "dazu" zu gehören, kennt Shaun Tan von Kindesbeinen an. 1974 als Sohn einer Australierin europäischer Herkunft und eines chinesischen Einwanderers geboren, sah sich Tan in der Schule plumpem Rassismus ausgesetzt. Zum Gefühl der Isolation trug bei, dass er in einem abgelegenen Vorort des ohnehin abgelegenen Perth aufwuchs, "einer der isoliertesten Städte der Welt, eingeklemmt zwischen einer gewaltigen Wüste und einem noch gewaltigeren Ozean", erinnert sich Tan auf seiner – übrigens exzellenten – Website. So entwickelte Tan früh Sympathie für die australischen Ureinwohnern: Fremde im eigenen Land. Später inspirierte die Situation der Aborigines ihn und den Autor John Marsden zu der düsteren Parabel "The Rabbits". In ihrer Bitterkeit wirkt sie wie ein Komplementärwerk zum warmherzigen "Ein neues Land".
Tans subtiler Bildroman ist, wie es der US-Comicstar und Einwandersohn Gene Yang ("American Born Chinese") auf den Punkt bringt, "nicht die Geschichte eines Immigranten, sondern die Geschichte des Immigranten". Er basiert auf Anekdoten von Tans Vater und den Erlebnisberichten anderer Einwanderer, jedoch kann die Hauptfigur für jeden stehen, der Vertrautes aufgeben muss und Neu-Land betritt.
Tans Protagonist lässt Frau und Tochter einstweilen in der düsteren Heimat zurück, um jenseits des Ozeans ein neues, besseres Zuhause zu suchen. Die neue Heimat präsentiert sich zunächst verheißungsvoll, im mächtigen Hafen reichen zwei Freiheitsstatuen sich, auf Augenhöhe miteinander, die Hände.
Doch kaum von Bord gegangen, versteht der Held die Welt nicht mehr: Sprache und Symbole sind ihm fremd, durch die Aufnahmeprozedur gelangt er mit mehr Glück als Verstand. Als er hungrig Brot zu kaufen versucht, bietet man ihm statt dessen seltsame Gemüse an: Brot ist unbekannt. Bald erkennt er auch, dass unter der leuchtenden Oberfläche gigantische, ölverschmierte Maschinen schnaufen, die Arbeiter zum Teil des Mechanismus degradieren.
Aber es gibt ein Leben jenseits des Räderwerks. Immer wieder ist der Einwanderer auf die Freundlichkeit von Fremden angewiesen, Migranten wie ihm, nun Bürger des neuen Landes, und er trifft dabei auf große Herzlichkeit. Die allerdings gründet stets in überwundenem Schrecken: Die neuen Freunde sind einst selbst Not, Versklavung oder Völkermord entkommen.
Daraus hätte nun ebenso gut gemeinter wie unerträglicher Betroffenheitskitsch werden können. Statt dessen wirkt das fremde Land auf den Leser so überraschend, fesselnd und faszinierend wie auf die Hauptfigur. Das liegt im Wesentlichen an Tans intelligentem Einsatz von Metaphern. Tan legt Wert darauf, dass seine Bilderbuch-Universen als Parallelwelten verstanden werden, die unabhängig von unserer Realität existieren, aber einer ähnlichen Logik folgen. Darin konstruiert er Beziehungen zwischen fiktiven Figuren und ihrer Umwelt, die jenen zwischen realen Menschen und deren Umgebung ähneln. Eindeutige "Sinnbilder" hingegen meidet er.
Die wundersamen Maschinen und Tiere des neuen Landes sind weit mehr als nur exotische Dekors. Sie ermöglichen es dem Leser, den Prozess der Annäherung nachzuvollziehen. Dabei geht Tan sehr geschickt und charmant vor: Kaum hat der Protagonist etwa eine Bleibe in einem riesigen Wohnblock gefunden, springt ihm aus einem Gefäß ein unheimliches Ding entgegen – ein skurriles Mischwesen aus Maus und Hai (Tan griff dabei auf die Schockbegegnung seiner Freundin mit einer Ratte zurück). Da das Geschöpf eher verspielt als gefährlich wirkt und sich ohnehin nicht vertreiben lässt, toleriert der Einwanderer es zunächst widerwillig in seiner Nähe. Später akzeptiert er es als ständigen Begleiter, der ihm bei der Kontaktaufnahme mit anderen Stadtbewohnern hilft, und gewinnt es, wie der Leser, sogar lieb.
Fast fünf Jahre hat Shaun Tan an "Ein neues Land" gearbeitet und bei aller Schwerelosigkeit der Erzählung spürt man die Überlegung und Sorgfalt in jedem einzelnen Bild. Aber ist es nun ein Comic? Vielleicht nicht. Fest steht jedoch: An Tans Buch müssen sich "echte" Comics künftig messen lassen.
[Zu Platz 7]
(© 2008 Jeff Smith)
"Suggested for mature readers": Weil ihm beim Anblick unbedarfter US-Eltern, die ihren Kindern ein "RASL"-Heft kauften, zu Recht mulmig wurde, lässt "Bone"-Schöpfer Jeff Smith seine neue Serie seit Ausgabe 2 mit dem Hinweis versehen, dieser Comic sei nichts für die Kleinen.
Offen gesagt: Als auf 13 Jahre "Bone" 2007 erst einmal die unfassbar trantütige Golden-Age-Superhelden-Hommage "Shazam! – The Monster Society of Evil" folgte, dachte ich schon, Smith sei für alle Zeiten ausgebrannt.
Weit gefehlt! Bereits Heft 1 der im März 2008 gestarteten Serie über den zwischen Parallelwelten hin- und her springenden Kunstdieb RASL deutete an, dass der bisherige Konsens-Comic-Star Smith durchaus bereit ist, biedere Fans zu vergrätzen. Endgültig klar wird dies in Heft 3: eine Actionszene, bei der die Gegner einander buchstäblich den Rotz herausprügeln, ein unerwarteter Zungenkuss und einige der abgründigsten erotischen Verwicklungen seit Hitchcocks "Vertigo" – Kinderchen, spielt das bitte nicht zu Hause nach!
Smith' Indie-Freund Terry Moore ("Strangers in Paradise") brachte 2008 mit "Echo" selbst eine lesenswerte Sci-Fi-Serie heraus. "Echo" scheint "RASL" auf den ersten Blick dramaturgisch wie grafisch überlegen, ist aber auch wesentlich glatter und vorhersehbarer als Smith' neues Baby. Bei "RASL" ahnt bislang wohl allein der Autor, wohin die Reise geht. Science-Fiction, Thriller oder Lovestory? Bislang ist "RASL" vor allem ein Abenteuer.
Terry Moores neue Serie "Echo"
Julie Martin kommt vom Metallregen in die Traufe.
Aus: "Echo No. 2"
(© 2008 Terry Moore)
Offen gesagt: Ich war mäßig begeistert, als der Comic-Händler meines Vertrauens mir vor einigen Monaten Terry Moores "Echo" ans Herz legte. "Echo" ist der Nachfolger von "Strangers in Paradise", jener mehrfach ausgezeicheten Schwarzweiß-Serie über die ungleichen Freundinnen Francine und Katchoo, die der Texaner Moore 14 Jahre lang geschrieben und gezeichnet hat.
Ende der 90er galt Moores Projekt als Prototyp des intelligenten Comics für die Frau und den aufgeklärten Mann. Nun, dieser aufgeklärte Mann hier hatte es damals gerade mit den etwas doofen, aber irgendwie auch ganz charmanten Babe-Serien "Danger Girl" und "Gen 13" (an letzterer schrieb Moore übrigens 1997 mit). Also setzte ich "Strangers in Paradise" seinerzeit auf meine Liste der "Comic-Klassiker, die ich noch lesen muss". Und das war's dann erst mal.
Inzwischen denke ich allerdings, ich sollte "Strangers" schleunigst nachholen. Denn Moores neues Baby "Echo" macht trotz einiger Macken bislang so viel Laune, dass ich dem klassischen Vorgänger gern eine zweite Chance gebe.
Jeff Smith' neue Serie "RASL"
Sci-Fi-Gauner RASL bleibt selten Zeit,
sich auf seine vier Buchstaben zu setzen
(© 2008 Jeff Smith)
Im Herbst 1994 bastelte ich in Hannover an meiner Magisterarbeit. Während der Abgabetermin immer näher rückte, begriff ich beim Schreiben allmählich, dass ich für eine Untersuchung zur Semiotik viel zu wenig Ahnung von Semiotik hatte. Dennoch oder gerade deswegen ließ ich mich immer wieder gern von drei bleichen, knubbelnasigen Comic-Helden ablenken. Ich hatte Jeff Smith' Serie "Bone" entdeckt.
Die ersten beiden US-Bände, die damals vorlagen, boten mit ihrer süffigen Mischung aus epischer Fantasy und aufgekratztem Humor etwas völlig Neues. (Aufmerksam geworden war ich, wie wohl die meisten deutschen Leser, allerdings durch die im selben Jahr gestartete Carlsen-Übersetzung).
Irgendwie bekam ich die Arbeit dann doch noch fertig, und da es darin um Comics ging, konnte ich sogar einige Bildbeispiele aus meiner Lieblingsserie unterbringen. Als ich einige Jahre darauf endlich den dritten Ami-Band in Händen hielt, merkte ich jedoch, dass auch Mr. Smith nur mit Wasser kocht: Er führte die drei "Bone"-Cousins plötzlich auf ziemlich ausgelatschte Fantasy-Pfade. Immerhin blieb er ein guter Erzähler, und ab Band 7 wurde die Story sogar wieder origineller, also zuckelte ich mit. Bis 2004, als Smith nach über 1300 Seiten die letzte "Bone"-Seite zeichnete.
Dann brachte der Meister erst einmal eine kolorierte Version seiner Saga heraus und vergnügte sich mit der Miniserie "Shazam! – The Monster Society of Evil", einer betont naiven Hommage an die klassischen "Captain Marvel"-Comics – beides nicht wirklich spannend. Doch dann, Mitte 2007, präsentierte Smith auf der Comic Con in San Diego sechs Seiten einer neuen längeren Serie: "RASL".
Heft 1 ist im März 2008 erschienen (ich habe es während meiner Neuseelandreise in Wellington gekauft), Nummer 2 soll noch diesen Monat folgen. Und obwohl "RASL" sicher nicht die Offenbarung ist, die "Bone" seinerzeit war, bin ich auf die zweite Ausgabe wesentlich gespannter als auf die erste. Denn vor "RASL No. 1" wusste ich ja nicht, dass Smith tatsächlich etwas Neues wagen würde und das in vielerlei Hinsicht. [...]
"DMZ: Abgestürzt" von Brian Wood und Riccardo Burchielli
Ein Praktikant im Niemandsland: DMZ-Besucher Matty Roth
(© 2006 Brian Wood and Riccardo Burchielli;
dt. Ausg.: © 2007 Panini Verlags-GmbH)
Okay, ich geb's zu: ich versteh's nicht. Wer erklärt mir, warum "DMZ" das neue heiße Ding sein soll?
"Wizard", das auf Superhelden-Fans fixierte, aber durchaus zurechnungsfähige US-Mainstream-Fachblatt, erklärt die Serie von Brian Wood und Riccardo Burchielli zum besten Comic, der dem DC-Label Vertigo seit "Y – The Last Man" und "Fables" gelungen sei. Die "New York Times "schließt sich exakt diesem Urteil an. (Wood hat es sich nicht nehmen lassen, einige dieser Lobeshymnen auf seiner Homepage zu veröffentlichen.)
Ich kenne und schätze "Y" und "Fables". Beides sind außergewöhnlich intelligent geplottete, ansprechend gezeichnete Serien mit faszinierenden Ensembles und einzigartiger Atmosphäre. Aber wer etwas Ähnliches lesen möchte, sollte lieber zu "Ex Machina" oder "100 Bullets" greifen, denn "DMZ" kann keiner dieser Serien das Wasser reichen. Zugegeben: "DMZ" ist kein schlechter Comic. Aber eben auch kein besonders guter.
Schade, denn die Serie, deren erster Band seit Juni bei Panini auf Deutsch vorliegt, arbeitet mit einer gewitzt subversiven Prämisse: In naher Zukunft bricht in den USA ein neuer Bürgerkrieg aus, und Manhattan, Ort der Handlung, wird zu einem zweiten Bagdad.
Zu Band 1 der Serie "Global Frequency"
Zero Tolerance für Floskeln, aber Spaß an Techno-Blabla:
"Global Frequency: Planet in Flammen"
(© 2002, 2003, 2004 Warren Ellis / © 2004 DC Comics;
dt. Ausg.: © 2007 Panini Verlags GmbH)
Mindestens drei Dinge habe ich bei der Lektüre des ersten Bandes von Warren Ellis' Serie "Global Frequency" gelernt.
- Pflanzt man einem Menschen einen bionischen Roboterarm ein, müssen "die Knochen und das Gewebe [...] verstärkt und unterstützt werden, sonst reißt der neue Arm bei der ersten Bewegung einfach ab."
- Im Thingvellir-Tal wurden die ersten isländischen Parlamente "vor einer schwarzen Felswand [abgehalten], deren gewellte Oberfläche die Stimme des Redners verstärkte."
- "Die Butthole Surfers versuchten mal, eine Niederfrequenz-P.A. zu bauen, die Konzertbesucher dazu bringen sollte, sich einzuscheißen."