Freitag, 6. April 2007
Und wenn sie nicht gestorben sind,
dann legen sie sich um

Bill Willinghams Serie "Fables" (Teil 3 von 3)

"Stage Five: Extraction.
After completion of all objectives, return to the extraction point [...].
The beanstalk should have fully deployed by the time you reach it.
Plant the remaining bombs at its base in places of concealment to avoid detection from any forces that might give chase.
Be sure to activate the radio detonator while in the Empire dimension
to ensure a good signal."

Aus: "Fables [8]: Wolves"

(© 2006 Bill Willingham and DC Comics)



Wolf, Whiskey und Mowgli: Ein Beispiel für den schattenbetonten Zeichenstil des Teams Buckingham/Leialoha.
Aus "Fables [8]: Wolves"

(© 2006 Bill Willingham and DC Comics)


(Fortsetzung von Teil 2)

"Fables" ist nicht "Shrek": Der Autor Bill Willingham parodiert Märchen nicht, er persifliert sie, spinnt sie satirisch fort oder erfindet sie ironisch neu – als "wahre Geschichte" hinter der Kinderbuchfassade. Vor allem aber nutzt er sie für ein intelligentes Spiel mit Mythen und Archetypen im Rahmen moderner Genreerzählungen. Auf die Detektiv-Story von Band 1 folgt in Band 2 eine Geschichte um Verschwörung und Rebellion. Band 3 beginnt mit einem kurzen Thriller um einen meisterhaft geplanten Einbruch und wird dann zum Mix aus Actionthriller und romantischer Komödie. In späteren Bänden folgen Kriegsabenteuer und jede Menge Seifenoper.

Band 2 ("Animal Farm", dt. "Farm der Tiere") beginnt mit Snow Whites alljährlichem Inspektionsbesuch auf der "Farm". Hier leben (siehe Teil 1 dieses Textes) jene Märchenwesen, die keine menschliche Gestalt annehmen können oder wollen. Kaum angekommen, stellt "Miss White" fest, dass zwei der drei kleinen Schweinchen einen Putsch planen, maßgeblich unterstützt von der zunehmend soziopathischen Tiersympathisantin Goldilocks (Goldlöckchen). Wenig später verliert das erste Tierchen den Kopf und Snow White ist auf der Flucht.

Schneewittchen vs. Shir Khan – ich glaube, es war diese Stelle, die mich doch noch zum "Fables"-Fan werden ließ. Oder die Szene, in der Goldlöckchen sich hinters Zielfernrohr klemmt. Oder die Tatsache, dass sich am Ende fast jede Figur die Pfoten schmutzig gemacht hatte. Band 2 ist schneller, härter, witziger als das Debüt. Dabei deutet sich eine der größten Stärken der Serie hier erst an: Wie vielleicht kein Autor vor ihm lotet Willingham die Möglichkeiten des seriellen Erzählens aus. Dies ist es, was "Fables" nicht nur von den meisten Comic-Serien, sondern auch von Serien im Fernsehen oder anderen Medien unterscheidet. Wichtige Figur – zumindest scheinbar – sterben zu lassen, ist natürlich nicht revolutionär, wohl aber, bisherige Nebenfiguren zu Hauptfiguren zu machen und umgekehrt. Wirklich deutlich wird dieses erklärte Prinzip des Autors freilich erst ab Band 6 ("March of the Wooden Soldiers").

Ab Band 2 betreut Mark Buckingham die Serie als Hauptzeichner. Hand aufs Herz: Der Wechsel vom klassisch-naturalistischen, sehr detailverliebten Stil seines Vorgängers Lan Medina zum leicht karikierenden, vieles nur andeutenden Strich Buckinghams bereitete mir seinerzeit Probleme. Unter anderem, weil Buckingham Anatomie und Perspektive hier noch nicht so sicher beherrschte wie in späteren Bänden. Vor allem aber vermisste ich die elegante Manier, in der Medina die "Fables"-Frauen gezeichnet hatte. Jawohl, ich gebe es zu: Ich schätze good girl art! Inzwischen denke ich allerdings, dass der Stil von Mark Buckingham viel besser zu "Fables" passt. So hübsch bei Medina alles aussah, so steif wirkte es oft auch. Buckinghams vergleichsweise frecher Strich dagegen korrespondiert dem hintergründigen Humor von Willinghams Stories. Das Zusammenspiel von Buckinghams Vorzeichnungen (pencils) mit den Tuschlinien (inks) von Steve Leialoha passt perfekt zum Großstadt-Fantasy-Sujet: Statt exakter Gesichtskonturen zeigen die Künstler oft nur die Schatten der Erhebungen und Täler des Gesichts. Erst das Gehirn des Lesers modelliert daraus dann halbwegs verlässliche Formen. So bleiben die "Fables"-Figuren wie Schattenwesen, die halb in der realen Welt, halb im Unbewussten leben.

In den USA sind bislang acht Bände erschienen sowie der Kurzgeschichten-Sonderband "1001 Nights of Snowfall", der die Vorgeschichte einiger Charaktere ergründet. Dazu kommt noch "Jack of Fables: The Nearly Great Escape", der sich um die Solo-Abenteuer von Willinghams Lieblingsfigur Jack Horner rankt, dem trickreichen – und im Comic kriminellen – Helden aus "Jack und die Bohnenranke". Im Juni erscheint mit "Sons of Empire" die neunte reguläre "Fables"-Sammlung.

Den deutschen Lesern stehen die Sternstunden der Serie noch bevor. Wie eingangs erwähnt, ist meine Liebe zu "Fables" nach Band 6 jedoch ein wenig abgekühlt. Das hat drei Gründe:

Erstens strapaziert Willingham meine Geduld, indem er die Hauptgeschichte mit seiner wachsender Leidenschaft für Kurzgeschichten aus der Vergangenheit einzelner Figuren unterbricht. Diese Stories werden stets von Gastzeichnern illustriert. Dass einige davon nicht halb so talentiert sind wie Mark Buckingham, ist entschuldbar, zumal Willingham ab und an auch interessante Leute wie den Brit-Comic-Guru Bryan Talbot an Land zielt. Viel problematischer ist, dass Willingham bei diesen Kurzgeschichten selten mit ganzem Herzen dabei zu sein scheint. Es gibt Ausnahmen: etwa die wüste Bürgerkriegs-Mär "Bag O' Bones" (Band 3) oder die spröde, aber anrührende "Ballad of Rodney & June" (Band 7) und auch einige der abgründigeren Geschichten im Hardcover-Prachtband "1001 Nights of Snowfall", für den der Texter einige der besten Comic-Künstler um sich scharte.

Zweitens: Willinghams Konzept, den Fokus von bisherigen Protagonisten auf andere Figuren zu richten, macht Spaß, solange es nicht dazu führt, dass ehemals funkelnde Charaktere beim Wiedersehen nur noch matt schimmern. Aber genau das ist dem Autor z. B. mit Snow White passiert: Das zahme Herzchen aus Band 8 hat wenig mit der knallharten Schönheit der frühen Bände gemein.

Drittens, und das ist für mich das Hauptproblem, fühlt Willingham sich in der Märchenwelt offenbar zu wohl. Das heißt: Seinen Figuren bereitet der Zwang, ihr wahres Wesen vor den normalsterblichen New Yorkern zu verbergen, immer weniger Probleme. Immer häufiger spielen die Storys in jenen Märchen-Parallelwelten, aus denen die "Fables"-Wesen einst geflohen sind, und immer seltener am Rand ihrer Enklave in der realen "Mundy"-Welt. Dabei sorgte just das Überschreiten dieser Grenze bis Band 4 für zusätzliche Spannung.
Als Bigby Wolf anno 2006 (nachzulesen in Band 8) sein Faible für den "Mundy"-Staat Israel offenbarte ("a bunch of tough little bastards"), reagierten manche Leser verärgert auf dieses politische Statement. Zumal sich der große böse Bigby Wolf speziell für Israels Politik der umgehenden Vergeltung begeisterte – so wie auch Willingham selbst es später in einem Interview mit dem US-Fachblatt "The Comics Journal" tat.

Nun, solange ich durch die "Fables"-Lektüre nicht eines besseren belehrt werde, betrachte ich die Sache als kosher. Diese Äußerungen passen genau zum rauen Charakter von Bigby Wolf, zudem hat Willingham erst im Vorgängerband "Arabian Nights (and Days)" das Zusammentreffen der New Yorker Charaktere mit Märchenfiguren aus dem Morgenland mit ebenso viel Biss wie diplomatischer Finesse geschildert. Und auch wenn sich der Texter mit derlei Statements vielleicht zu weit aus dem Fenster lehnt: Ich betrachte es als gutes Zeichen, dass Willingham endlich wieder einmal einen starken Bezug zur realen Welt herstellt.

Vielleicht liege ich bei diesem letzten Punkt ohnehin völlig falsch. Womöglich plant Meister Willingham still und heimlich einen Angriff der "Mundy"-Welt auf das "Fables"-Reich: Seit kurzem recherchiert der normalsterbliche Reporter Kevin Thorn (eine Figur, die seit Band 5 von der Bildfläche verschwunden war) endlich wieder an der Ecke Bullfinch Street/Kipling Street, was in diesem obskuren Teil von Upper Manhattan vor sich geht.

Sieht fast so aus, als würden Wünsche doch wahr.