Mittwoch, 17. März 2010
Was vom Jahre übrig blieb:
Meine Comic-Favoriten 2009 – Platz 2

Meine Mutter ist in Amerika
und hat Buffalo Bill getroffen


Text: Jean Regnaud
Grafik: Émile Bravo
Verlag: Carlsen

© Gallimard Jeunesse 2007
© Carlsen Verlag GmbH 2009

Nach Platz 3 heißt es hier gleich noch einmal: Bravo, Bravo! Der 1964 geborene Émile Bravo, Pariser Zeichner mit spanischen Wurzeln, überbrückt elegant die Kluft zwischen dem klassischen frankophonen Jugendcomic und der "alternativen" nouvelle bande dessinée. Obwohl er in denselben Ateliers wie Lewis Trondheim, Marjane Satrapi oder Christophe Blain arbeitete und sich wie sie auf die Dekonstruktion von Biografie/Mythos/Genre versteht, zeichnet er doch wie Hergé, Peyo oder Morris für die "ganze Familie".

"Meine Mutter ist in Amerika" beginnt im September 1970 mit dem ersten Schultag des kleinen Jean. Es endet im Januar 1971, als Jean eine neue Lehrerin bekommt, nachdem er auch ohne Hilfe der alten in wenigen Monaten mehr über das Leben gelernt hat, als er wissen wollte. Jean wächst ohne Mutter bei Vater und Kindermädchen auf. Seine Mutter, so sagt man ihm, sei auf Reisen. Als er der zwei Jahre älteren Nachbarstochter Michelle davon erzählt, präsentiert sie ihm wenig später Postkarten der absenten Mama – angeblich heimlich an Michelle geschickt, damit das Mädchen sie dem noch leseunkundigen Jean vorliest. Erwachsenen Lesern dürfte schnell klar sein, was es wirklich mit Jeans Mutter auf sich hat, für den Jungen aber ist sie eine verehrte, jdeoch unfassbare Gestalt, ähnlich dem Weihnachtsmann.

Jeans Geschichte basiert auf der Kindheit von Bravos Freund und langjährigem Co-Szenaristen Jean Regnaud. Er lieferte die Texte, überließ es aber Bravo, sie in Szene zu setzen. Das Ergebnis ist eine jener unvergesslichen Kindergeschichten, die gerade durch ihre Unsentimentalität anrühren. Und obwohl der kleine Jean noch keine Comics liest, sondern lieber Trickfilme schaut, ist es auch eine phänomenale Liebeserklärung an das Medium Comic. Charmant und unprätentiös zeigen Regnaud und Bravo, was der Comic kann und was nur der Comic kann. Dabei stellen sie diese Möglichkeiten komplett in den Dienst der Geschichte.

Bravo erzählt in großen Kinderbuchillustrationen, wechselt aber in schnelle Folgen kleiner Panels, wenn der Bewusstseinsstrom von Regnauds kindlichem Ich-Erzähler an Fahrt gewinnt und zugleich präziser wird. Der Clou ist jedoch, wie das Duo mit Sprache umgeht: Als roter Faden führen die Textkommentare des kleinen Jean durch die Handlung. Werden Dialoge als solche wiedergegeben, dann in üblichen Text-Sprechblasen. Erinnert sich der Erzähler zwar, was gesagt wurde, aber nicht wie, dann enthalten die Blasen nur Bildsymbole.

Wie der kleine Jean, so steht auch dieser Comic zwischen der Welt der Buchstaben und jener der Bilder, zwischen der Welt der Erwachsenen und jener der Kinder. Auf genau diese Brückenposition zielt Bravo in seiner Arbeit ab, sicher im Bewusstsein, dass Comics für diese Mittlerposition wie geschaffen sind. Anders gesagt: Die Botschaft dieses Comics ist das Medium – und umgekehrt.