Montag, 29. März 2010
Was vom Jahre übrig blieb:
Meine Comic-Favoriten 2009 – Platz 1

Der spazierende Mann

Text und Grafik: Jirō Taniguchi
Verlag: Carlsen

© 1992 Jirō Taniguchi
© Carlsen Verlag GmbH 2009


Selbst bei seinem gemächlichen Tempo: "Der spazierende Mann" hat elend lang gebraucht, um zu uns zu finden. Die Sammlung kurzer Geschichten gilt schließlich als der Taniguchi-Klassiker schlechthin und entstand bereits Anfang der 90er. Die dialogarmen, mit architekto-
nischer Präzision gezeichneten Stories folgen auf Schritt und Tritt einem namenlosen Japaner (um die 30, untersetzt, wortkarg, doch stets freundlich), der durch seine Nachbarschaft läuft und läuft und läuft. Ab und zu trinkt er auch Tee mit seiner Frau, repariert ein Vogelhaus oder holt für Kinder ein Spielzeugflugzeug aus einer Baumkrone. Diese scheinbar ereignislosen Geschichten suchen nicht nur unter den Manga, sondern unter Comics überhaupt ihresgleichen. Die schwer fassbare Mischung aus Einfachheit und Anspruch war dann wohl auch der Grund, warum "Der spazierende Mann" den meisten deutschen Lesern erst 2009 begegnete. Jahre, nachdem konventionellere, später geschaffene Taniguchi-Werke wie "Vertraute Fremde" oder "Die Stadt und das Mädchen" den Künstler hierzulande als ersten Mangaka etabliert hatten, der auch und gerade frankophile Alben-Fans begeisterte.

Das radikale Konzept zu "Aruku hito" entstand 1990 erstaunlicherweise im Rahmen einer Auftragsarbeit. "Eines Tages", so erzählt Taniguchi*, "kam einer der Redakteure [des Manga-Magazins 'Morning'] auf mich zu und fragte mich, ob ich nicht eine Geschichte über einen Spaziergänger machen wollte. Von solch einem Thema hatte ich noch nie gehört, also sagte ich zu." Das Solo-Projekt sollte Taniguchi, damals immerhin schon Anfang 40 und ein erfahrener Zeichner, international als Manga-Auteur bekannt machen.

Auf den ersten Blick ist Taniguchis Spaziergänger ein japanischer Forrest Gump: Gutmütig rennt er allein oder mit Hund durch die Gegend, wird ob seiner Freude an einfachen Dingen wie Papier-Luftballons schon mal von Kindern ausgelacht, fällt in den Schmutz oder bekommt im Sturm dreckiges Papier ins Gesicht. Doch der Spaziergänger ist kein tumber Narr, sondern ein aufgeklärter Entdecker. Er erhebt das Flanieren zur Dialektik. Ausgehend (pun intended) von seiner eigenen Unzufriedenheit damit, dass alles "immer schneller und schneller gehen"* musste, verlieh Taniguchi seinem Wanderer Gemütsruhe und scharfe Augen. Die Figur erfasst die moderne Welt mit mikroskopischem Blick und entdeckt darin das Alte: Natur und Tradition. Diese neue Sichtweise erlaubt es dem Spaziergänger, aus dem hektischen Alltag in – nicht für jeden sichtbare – Freiräume zu fliehen. So erschafft Taniguchi das Paradoxon einer realistischen Weltflucht.

Bei aller Freude über das deutsche Erscheinen von "Aruku hito": Der Klassiker hätte ein größeres Format verdient gehabt. Moi, ich bin froh, dass ich den Band vor einigen Jahren schon in der französischen Casterman-Ausgabe erworben habe (nachdem mich der Spaziergänger seit einer Manga-Ausstellung in Hamburgs Deichtorhallen verfolgt hatte). Das Format der Carlsen-Ausgabe ist zwei bis drei Zentimeter kleiner, etwa DIN A5. Das ist leider so klein, dass Taniguchis feiner Strich mitunter zu verblassen droht und der Blick nur schwer in den Panels wandern kann. Allerdings: Ein Vorteil der deutschen Version ist, dass anders als bei Casterman auch diverse japanische Aufschriften per Fußnote übertragen wurden.

* Zitate nach: Jens R. Nielsen: "Leben mit der Bombe. Der Manga als grafische Erzählform"
   in: Text + Kritik – Sonderband Comics, Mangas, Graphic Novels, München 2009.


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