Sonntag, 1. Juli 2007
Meine Krimi-Comic-Top-12 für die einsame Insel
Teil 4 von 4
(Fortsetzung von Teil 3)

And the winner is... ah, Moment noch.

Nach drei Wochen komme ich nun endlich zu Platz 1 meiner Top 12 der besten Krimi-Comics. Die eigentliche Liste war seinerzeit schnell erstellt, die Arbeit an den Texten zu den einzelnen Plätzen aber dauerte ewig und drei Tage.

Aber nun, tadaaah:

Platz 1: Top 10 – Book 1 (1999/2000)
Text:  Alan Moore   Grafik: Zander Cannon (Layout),
                                    Gene Ha (Zeichnungen),
                                    Wildstorm FX (Farben)

( © 1999/2000 America's Best Comics)


"Top 10" als Nummer eins einer "Top 12" – ist das ein Witz? Nein. "Top 10" ist der selbst gewählte Spitzname der Polizeitruppe von Neopolis, einer fiktiven Megastadt, in der ausschließlich Superhelden, Superschurken und andere Wesen mit Superkräften leben. 1999 und 2000 ermittelten diese Cops zwölf Hefte lang, später wurde der hinreißende Comic-Krimi in zwei Bänden zusammengefasst.

Tja, liebe Comic-Connaisseure, wer an dieser Stelle "Sin City: The Hard Goodbye" (mehr Groteske als Krimi), "100 Bullets: First Shot, Last Call" (mehr Drama als Krimi), "V for Vendetta" (mehr Sci-Fi als Krimi), "120, Rue de la Gare" (überzeugt mich nur optisch) oder "Blacksad" (dito) erwartet hatte, den muss ich enttäuschen. In meinen Koffer für die einsame Insel schaffen es diese Comics alle nicht.

Auch nicht dabei: "5 ist die perfekte Zahl", "Jinx" oder "Torso", denn die habe ich einfach noch nicht gelesen, es kam halt immer irgend etwas dazwischen. Vielleicht stelle ich aber im nächsten Jahr eine Top 20 auf, die dann schon wieder ganz anders aussieht.

Einige Fans von Alan Moore fühlen sich an dieser Stelle vielleicht gefoppt, weil sie hier statt "Top 10" einen anderen Comic des Meisters erwartet hatten: Nun, "From Hell" steht als telefonbuchdickes US-Paperback jetzt seit gut drei Jahren bei mir im Regal. Seitdem schiebe ich dieses als Jack-the-Ripper-Krimi getarnte gigakomplexe Historienpanorama vor mir her, so wie viele Literaturfreunde es mit "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" tun, mit dem "Ulysses" oder dem "Mann ohne Eigenschaften". Auf einer Liste meiner Lieblings-Krimi-Comics hat "From Hell" also einstweilen nichts verloren. Moores Miniserie "Top 10" dagegen, speziell der erste der beiden Bände, ist für mich wie einer dieser Lieblingsfilme, in die man zufällig im Spätprogramm hineingerät, und die man dann zum zehnten bis zwanzigsten Mal doch wieder wie gebannt bis zum Ende verfolgt.

All jenen aber, die es peinlich finden, dass ich einen Superhelden-Comic auf Platz eins setze, kann ich nur sagen: Die USA haben drei originäre Kunstformen hervorgebracht – den Jazz, den Western und den Superhelden-Comic. In allen dreien arbeiten schlechte, durchschnittliche und gute Künstler. "Top 10" ist das Werk von sehr guten. Alan Moore gilt als einer der besten Autoren, wenn nicht gar als der beste Autor von Comic-Romanen und ist mit Werken wie "Watchmen", "V for Vendetta", "From Hell" oder "The League of Extraordinary Gentlemen" auch außerhalb der Comic-Gemeinde bekannt geworden (wenn auch eher durch die passablen bis schlechten Verfilmungen). Nie aber war Moore gleichzeitig so entspannt, witzig und doch perfektionistisch wie bei "Top 10", weshalb die von Gene Ha und Zander Cannon delikat illustrierte Miniserie für mich einen Höhepunkt seiner Arbeit darstellt. Neben "V for Vendetta" ist "Top 10" auch der beste und unterhaltsamste Einstieg in Moores umfangreiches Werk.

"Top 10" spielt in einem Paralleluniversum, das unserer Welt stark ähnelt, in dem es allerdings jede erdenkliche Art von Superwesen gibt. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen in dieser Welt die sozialen Spannungen zwischen Mutanten, mad scientists, Magiern, Aliens, fühlenden Robotern, vernunftbegabten Tieren und der "normalen" Bevölkerung in so Besorgnis erregendem Ausmaß zu, dass der größte Teil der in den USA lebenden Supermänner, -frauen, -tiere und -maschinen freiwillig in eine eigens für sie errichtete Stadt umsiedelte: das mit Hilfe ehemaliger Naziwissenschaftler erbaute Neopolis. Die Einwohner waren fruchtbar und mehrten sich. Weil die Superkriminalität ebenso massiv wuchs wie die Superbevölkerung, wurde die Stadt im Jahr 1985 zum zehnten Revier ("Precinct 10", daher "Top 10") einer mehreren Paralleluniversen übergeordneten Polizeibehörde ("Grand Central") erklärt.

Man muss dieses Konstrukt nicht logisch finden, um Spaß mit "Top 10" zu haben. Man muss nur verstehen, dass in Neopolis vom Haustier bis zum Bürgermeister jeder Einwohner irgendwelche Superkräfte besitzt. Hat man das erst einmal geschluckt, kann man "Top 10" wie jedes Meisterwerk auf unendlich viele Arten lesen und genießen, etwa als Comic-Adaption der besten TV-Serie, die nie gedreht wurde, als postmodernen Streifzug durch die Geschichte der Populärmythen oder als Comic-Äquivalent zu einer großartigen Kostümparty (wobei einige Kostüme abgründige Geheimnisse verbergen).

Wie Meister Moore (in George Khourys Interview-Band "The Extraordinary Works of Alan Moore") erzählt, hatte er zunächst keinen Krimi-Comic im Sinn, sondern eine Serie über ein All-Star-Team von Superhelden. An klassischen Beispielen dieses Genres wie der "Justice League of America" störte ihn aber, dass die Charaktere durch den Zwang zur Teamarbeit ihrer individuellen Charakterzüge beraubt wurden und sich nur noch durch ihre Kräfte unterschieden.

Weil Moore nicht die übermenschliche, sondern die menschliche Seite der Helden in den Vordergrund stellen wollte, stattete er sämtliche Bewohner von Neopolis mit Superkräften aus. Die Wirkung auf den Leser ist – zumindest bei mir – verblüffend: Nach der Lektüre vergaß ich relativ schnell, welche Kraft der riesige Jeff Smax besaß, erinnerte mich aber noch gut daran, dass er ein chronisch schlecht gelaunter und zugleich sehr unsicherer Typ war (Smax ist unzerstörbar und kann Energiestrahlen verschießen). Seine Kollegin Jackie "Jack Phantom" Kowalski bleibt im Gedächtnis, weil sie witzig, charmant und lesbisch ist, und nicht, weil sie wie ein Gespenst durch Wände gehen kann. Die Superkraft des altersweisen Revierleiters Steven "Jetman" Traynor zeigt Moore hier erst gar nicht (er tut es allerdings im Prequel "The 49ers"), verrät aber, dass Traynor, anders als Kollegin Kowalski, seine Homosexualität geheim hält.

Als wichtigste Identifikationsfigur für den Leser dient die frischgebackene Polizistin Robyn "Toybox" Slinger, die eine kleine Armee belebter skurriler Spielzeuge kommandiert. Wichtiger ist jedoch, dass die schüchterne junge Frau sich irgendwie mit dem Ekel Smax zusammenraufen muss, dessen ermordeten Partner sie ersetzt. Bei der Polizei ist Robyn offenbar nur aus Verehrung für ihren Vater gelandet, einen ehemaligen Cop, der jetzt als Alzheimeropfer vor der Glotze dahindämmert.

Obwohl Moore die psychologische und soziale Seite betont, zeugen Kräfte und Look seiner Figuren von faszinierendem Einfallsreichtum und Humor: "Irma Geddon" trägt eine Rüstung mit eingebauter Atombombe. Ihre übermenschlich schnelle Kollegin "Girl One" dagegen läuft stets nackt herum, denn sie kann ihre Pigmente steuern und sieht aus wie ein lebendes Popart-Gemälde. Der russische Telepath und Wodka-Freund "Spaceman" kann seinen Katerkopfschmerz in andere Schädel projizieren. Und Captain Traynors Stellvertreter Kemlo "Hyperdog" Caesar ist ein bebrillter Dobermann mit Menschengehirn und einem Zweibeiner-Exoskelett. (In einem wunderbar albernen Panel isst Caesar in der Kantine mit Messer und Gabel aus einem Hundenapf.)

Als leidenschaftlicher Fan amerikanischer TV-Serien wie "Polizeirevier Hill Street" oder "NYPD Blue" erzählt Moore die Superheldengeschichte nach Fernsehmustern: Eine oder mehrere Storylines ziehen sich durch die gesamte Staffel (die zwölf Hefte bilden "Season One"). Parallel dazu ermitteln die Cops aber in mehreren kleineren Fälle und plagen sich mit privaten Probleme. Dabei kann der Fokus zwischen den gleichberechtigten Figuren wechseln, humorvolle Geschichten dürfen neben dramatischen stehen.

In den zwei Haupterzählsträngen kommen die "Top 10"-Cops einem Drogenkomplott auf die Spur und jagen einen unheimlichen Prostituiertenmörder (der sich im zweiten Band selbst als Opfer entpuppt). Neben diesen ernsten Haupthandlungen stehen eher amüsante Problem-Fälle, in denen Moore so ziemlich jedes Genre auf die Schippe nimmt: Western, Science-Fiction, Weihnachtsmärchen, Sandalenfilme, ja sogar Pornos und antike Mythen.

Nachdem Smax etwa einen randalierenden Echsenmann verhaftet hat, kreuzt dessen sturzbetrunkener und wütender Vater auf: ein gigantischer Godzilla-Klon namens Gograh, der keine Rollen in Monsterfilmen mehr bekommt und seinen Frust gern mit einer Handvoll Brauerei-Tanklaster ertränkt. Doch kaum ist Gograh besänftigt, werden die Cops in die Bar "Godz" gerufen, um den Mord an Odins Sohn Baldur aufzuklären.

Es gibt sogar Szenen, die wie eine visionäre Parodie auf Forensik-Krimis à la "CSI" wirken. Außerdem finden sich auf fast jeder Seite satirische Anspielungen auf andere Comics: Da gibt es eine "Fortress of Pizza" (nach Supermans "Fortress of Solitude"), und im Rotlichtviertel wirbt eine absurde Leuchtreklame: "See invisible girls live on stage" (eine "Hommage" an das "Invisible Girl" von den "Fantastic Four" ). Im Internet finden sich inzwischen ausführliche Anmerkungen zu diesen Insider-Gags.

Die beiden Haupt-Storylines erzählt Moore allerdings ohne ständiges Augenzwinkern. Die Serie bezieht ihren Witz auch nicht aus lustigen Sprüchen. Stattdessen sorgt das Aufeinandertreffen dieser Massen von seltsamen Kostümcharakteren fortwährend für Situationskomik. Indirekt stellt Moore dabei die Frage, wie ernst man "richtige" Superhelden nehmen kann, wenn sie mit Strumpfhosen, Umhang und Maske durch ihre Städte springen. Sie kennen keine Selbstironie – im Gegensatz zu ihren "Top 10"-Kollegen. Zu den schönsten Momenten gehört ein Gespräch zwischen Smax und Robyn, die beide in der auch von Normalsterblichen bewohnten Vorstadt von Neopolis leben. "Neighbors are okay", meint Smax, "mine never treat me funny because I'm a science-hero or like that." "Mine neither", erwidert Robyn, "they just treat me funny because I'm a cop."

Moores Neopolis gleicht einer Maschine, die immer neue Stories produziert, und die im Kopf des Lesers noch weiterrattert, wenn man den Comic längst zugeklappt hat. Auf der zweiten Seite des ersten Bandes zeigt uns ein wunderschönes, fast ganzseitiges Panel das Zentrum der Stadt. Moores Vorwort-Beschreibung von Neopolis als "a four-story carpark designed by a varied committee including Ray Bradbury, Fritz Lang and Zeus" wird dieser Mischung aus Neoklassizismus, Art Deco und "Krieg der Sterne" kaum gerecht. Zum Durcheinander der Architektur gesellt sich auf den folgenden Seiten das farbenfrohe Gewimmel der Bewohner (zumeist kostümiert, wie es sich für Übermenschen gehört). Jedes Panel ist vollgestopft mit Details und Anspielungen. Dass man hier als Leser nicht den Überblick verliert, ist Zander Cannons Layouts zu danken. Normalerweise zeichnet ein Penciller die Panels eines Comics komplett vor, bevor der Inker sie tuscht. Bei "Top 10" dagegen erstellte Zander Cannon als "layout artist" zunächst Seitenaufteilung und Bildaufbau, bevor Gene Ha die Bilder als "finishing artist" detailverliebt vollendete.

Fast zeitgleich mit "Top 10" entstanden um die Jahrtausendwende herum andere gute Superhelden-Cop-Krimis: "Gotham Central" erzählt Batmans Abenteuer aus Sicht gewöhnlicher Polizisten, in "Powers" ermittelt ein ehemaliger Superheld mit normalsterblichen Kollegen. "Astro City" wiederum enthält lediglich Krimi-Elemente, doch in dem Serienporträt einer Stadt, in der Superhelden neben Normalbürgern leben, menschelt es ebenso stark wie in "Top 10", zudem zählt dort ebenfalls die Stadt selbst zu den Hauptdarstellern. All diese Serien geben sich seriöser und besitzen mehr psychologischen Tiefgang als "Top 10", keine erreicht allerdings Komplexität, Opulenz und Esprit von Moores Projekt.

"Top 10" ist bei dem speziell für Alan Moore gegründeten Label "America's Best Comics" erschienen, das wiederum zum Label "Wildstorm" gehört, seinerseits Teil von DC Comics. Nach nur zwei Bänden stellte Moore die Hauptserie ein. Unter den drei Spin-Offs kommt die Vorgeschichte "Top 10: The 49ers" dem Charme der Originalserie wohl am nächsten (obwohl – oder gerade weil? – einige deutsche Figuren darin ein unglaubliches Kraut-Kauderwelsch reden). Die köstliche Miniserie "Smax" schließt direkt an "Book 2" an, ist aber eine Fantasy-Persiflage und kein Polizeikrimi. Dann wäre da noch die fünf Jahre nach der Hauptserie spielende Fortsetzung "Top 10: Beyond the Farthest Precinct" von (Sci-Fi-)Autor Paul Di Filippo und Zeichner Jerry Ordway, die allerdings als ziemlich durchwachsen gilt. Die Originalzeichner Zander Cannon und Gene Ha arbeiten derzeit offenbar an einem "Book 3" der Hauptserie, leider ohne Alan Moore.

"Top 10: Book 1" kam auf deutsch bei Speed Comics heraus, der zweite Band erschien wegen der Insolvenz des Verlages jedoch hierzulande nie.