Sonntag, 29. April 2007
Tolle-Geschichten

Auf der Flucht vor der deutschen Polizei, kommt
Reporter Tim zu seiner markanten Frisur.
Aus: "Tim im Lande der Sowjets" (1929)

(Art © Hergé/Moulinsart. Translation © Carlsen Verlag)


Knopfaugen, Comic-Krawatte, Hosenbund hoch überm Bäuchlein: Hätte mir jemand erzählt, Michael Farr wäre nicht nur "Tim & Struppi"-Experte, sondern zudem Spezialist für "Mecki", ich hätte es bei Farrs Lesung am Freitagabend glatt geglaubt. Der britische Journalist, Jahrgang 1953, ist neben Benoît Peeters wohl der bekannteste Tintinologe: Er erforscht Entstehung und Hintergründe der Comic-Serie "Tim & Struppi" (im Original: "Les aventures de Tintin") und die Biographie ihres Schöpfers Georges Remi alias "Hergé" (1907–1983). Sein Buch "Auf den Spuren von Tim & Struppi" ist bereits im Dezember 2006 im Hamburger Carlsen-Verlag erschienen, der ja seit 1967 auch die "Tim"-Alben herausgibt.

Anlässlich des bevorstehenden hundertsten Geburtstags von Hergé am 22. Mai hielt Farr am Freitag, 27. April 2007, im Foyer des Carlsen-Verlages einen Vortrag zum Buch. Dabei bescherte die schön altmodisch per Overhead-Projektor illuminierte Rede dem Publikum allerdings auch kuriose Erkenntnisse, die so nicht in dem schmucken Hardcover stehen.

In dem passabel gefüllten Foyer in Hamburg-Ottensen hatten sich übrigens, soweit ich sehen konnte, nur Menschen jenseits der 30 eingefunden. Lesen Kinder und Jugendliche heutzutage eigentlich noch den Kinder- und Jugend-Comic "Tim & Struppi"? Immerhin: Farr erzählte später, er habe sein Buch am Nachmittag für einen Jungen signiert, der erst in drei Monaten geboren werde.

"Auf den Spuren von Tim & Struppi" erschien in Großbritannien bereits 2002 als "Tintin – The Complete Companion". Die deutsche Übersetzung basiert aber offenbar auf der französischen Fassung "Tintin – Le rêve et la realité" und wurde um Details zur deutschen "Tim & Struppi"-Fassung erweitert. Das opulent bebilderte Buch schildert Entstehungs-, Publikations- und Rezeptionsgeschichte aller 24 Abenteuer, vom noch etwas kruden Debüt "Tim im Lande der Sowjets" über Meisterwerke wie "Der Fall Bienlein" oder "Tim in Tibet" bis zum durch Hergés Tod 1983 unvollendet gebliebenen "Tim und die Alpha Kunst".

Der Autor Michael Farr zeigt auch, wie Comic-Künstler Hergé seine erzählerischen Fähigkeiten stetig weiterentwickelte – und damit die Ausdrucksformen des gesamten Mediums. Dieser Aspekt kommt im Text zwar etwas zu kurz, wird aber mit klug ausgewählten Panels illustriert. So fehlt selbstverständlich nicht das legendäre Panel aus "Die Krabbe mit den goldenen Scheren", in dem Hergé einen einzigen Bewegungsablauf (ein liegender Mann steht auf und rennt davon) in fünf Phasen zerlegt und diese auf fünf verschiedene, in Leserichtung angeordnete Figuren verteilt.

Ein Geniestreich: das "Stroboskop"-Panel
aus "Die Krabbe mit den Goldenen Scheren"

(Art © Hergé/Moulinsart. Translation © Carlsen Verlag)


Vor allem aber belegt Farr, der Zugang zu Hergés umfangreichem Recherche-Archiv hatte, wie exakt sich der Zeichner an realen Vorlagen orientierte. Er verschweigt nicht, wie naiv Hergé in seinen frühen Werken ("Tim im Lande der Sowjets", "Tim im Kongo") verfälschenden und tendenziösen Berichten folgte. Deutlich ausführlicher als Benoît Peeters in seinem – vergriffenen – Standardwerk "Die Welt von Hergé", geht Farr auf reaktionäre und rassistische Tendenzen in den ersten Abenteuern ein. Dass er den jungen Hergé als politisch Unbedarften und den reiferen als aufgeklärten Freund der "Underdogs" darstellt, entspricht offenbar durchaus den Fakten. Gleichwohl wäre es schön, wenn endlich einmal ein Tintinologe das Offensichtliche zugeben würde: Georges "Hergé" Remi war ein Genie, aber kein Intellektueller.

Nicht alle Beispiele aus Farrs Kabinett der Verweise und Ähnlichkeiten können überzeugen: Ob ein komplett nachtschwarzes Panel nun wirklich ein Verweis auf Malewitsch ist oder einfach eine clevere Comic-Idee, sei mal dahingestellt. Und der angebliche Einfluss der Filme von Fritz Lang und ihrer expressionistischen Kontraste kann so prägend auch nicht gewesen sein. Schließlich gehört der weitgehende Verzicht auf Schatten und Schattierungen ja gerade zu den Merkmalen von Hergés Zeichenstil, der legendären ligne claire. Insgesamt belegen die Bilder aber überzeugend und amüsant Hergés stetig wachsende Akribie bei der Recherche von Architektur- oder Kleidungsdetails.

In Paris aufgewachsen und von Kindesbeinen an "Tintin"-Fan, arbeitete Farr später als Korrespondent der britischen Nachrichtenagentur Reuters in Brüssel. Hier lernte er sein Idol Hergé persönlich kennen: 1978, im journalistischen "Sommerloch", bei Rehrücken in Hergés Stammrestaurant. Wobei der Meister, so erzählt Farr, beim ersten Treffen lieber über seine Begeisterung für Pink Floyd als über "Tintin" geplaudert habe. 1979 wurde Farr von Brüssel nach Berlin versetzt. Obwohl er fließend Deutsch spricht, hielt er den Vortrag auf Englisch, garniert mit lustigen Einsprengseln: "It is verbluffend, diese Ähnlichkeit!"

Apropos: Die verblüffende Ähnlichkeit von Hergés Vater und dessen Zwillingsbruder mit den Melone tragenden Detektiven Schulze und Schultze belegte Farr im Vortrag, anders als im Buch, mit einem Foto. Auch Hergés Jugendliebe Marie-Louise Van Cutsem, genannt "Malou", stellte Farr im Carlsen-Foyer mit Foto vor. Im Buch dagegen erwähnt er die Frau, der Tims Hund Struppi seinen französischen Namen "Milou" verdanken soll, nur als namenloses "Mächen, dem er [Hergé] während seiner Schulzeit beharrlich hinterhergestiegen war". Sehr witzig und auch in "Auf den Spuren von Tim & Struppi" ausführlich nachzulesen: Als reale Vorlage für den kurzgewachsenen Erfinder Professor Bienlein diente nachweislich der Schweizer Auguste Piccard: Ballonfahrer, Tiefseetaucher – und Bohnenstange.

Laut Farr verdankt der "Tintin"-Kosmos zwei seiner prägnantesten Elemente übrigens den Deutschen. Wernher von Brauns Nazi-Wunderwaffe V2 diente wahrscheinlich als Designmodell für die rot-weiß karierte Rakete, mit der Tim Anfang der 50er zum Mond flog.

Und wem das politisch zu bedenklich ist, der darf sich immer noch über den deutschen Ursprung von Tims berühmter Haartracht freuen: Im Debüt "Tim im Lande der Sowjets" von 1929 zeigt sein Haarbüschel zu Beginn noch struppig Richtung Stirn; erst als der junge Belgier auf der Reise nach Moskau in einem geklauten Mercedes vor der Berliner Polizei flüchtet, wenden sich die störrischen Haare im Fahrtwind nach hinten – Tims Tolle war geboren!


Michael Farr: "Auf den Spuren von Tim & Struppi", Hamburg 2006, Carlsen-Verlag, 205 Seiten, 35 Euro.