Sonntag, 30. Januar 2011
Die Klassiker-Therapie (1)
neurokomiker, 20:20h
Tantrum von Jules Feiffer
Erstausgabe: USA 1979 (Alfred A. Knopf)
Gelesene Ausgabe: USA 1997 (Fantagraphics)
Story: Der 42-jährige New Yorker Leo Quog erträgt die Erwartungs-haltung seiner Familie nicht mehr. Bei einem Koller (engl. "tantrum") verwandelt er sich vor den Augen seiner entsetzten Frau in einen Zweijährigen zurück und nimmt Reißaus. Innerlich bleibt Leo aber erwachsen, und so gelingt es ihm nicht, verantwortungslos und damit Verantwortung los zu sein.
Bester Satz: "What's the good of independence if you're not free to go back?"
Beste Stelle: Das zugleich groteske und anrührende Herzstück von "Tantrum" ist sicher Leos Versuch, seine magersüchtige Schwägerin zu heilen. Ziemlicher Klamauk, aber auch brillant: Leos Konfrontation mit einem Geheimbund anderer Pseudobabys.
Kritik: Mit "Tantrum" schrieb und zeichnete Jules Feiffer einen der ersten Comics, die man ohne definitorische Verrenkungen als Graphic Novel bezeichnen kann. Bekannter ist der 1929 geborene New Yorker allerdings für seine Strips in der "Village Voice", die ihm 1986 den Pulitzer-Preis für politische Karikatur einbrachten. Oder für sein Sachbuch "The Great Comic Book Heroes" von 1965, das als erste anspruchsvolle und wohlwollende Studie der Helden des "Golden Age" gilt. Oder für seine Drehbücher zu Mike Nichols' "Carnal Knowledge", Alain Resnais' "I Want to Go Home" und – ähem – Robert Altmans "Popeye". Anders gesagt: "Tantrum" taucht zwar in Guides und Bestenlisten auf, jenseits einer kleinen Schar erkahlender, historisch interessierter Indie-Comic-Fans kennt dieses Buch allerdings kein Schwein. Darum ist dieses zweifellos wichtige Werk auch immer wieder über längere Zeiträume "out of print" und – wie momentan – nur antiquarisch erhältlich.
Feiffer, ein umtriebiges Multitalent, arbeitete von 1947 bis 1951 als Assistent von Will Eisner an dessen Serie "The Spirit" mit. 1978 veröffentlichte Eisner mit "A Contract with God" jenes Werk, das die – bereits seit über zehn Jahren existierende – Vokabel "Graphic Novel" populär machte. Ein Jahr nach dem Meister legte Feiffer mit "Tantrum" dann selbst einen knapp 200 Seiten langen Comic-Roman vor, zu dem die Bezeichnung sogar besser passt als zu Eisners Novellensammlung.
In vielerlei Hinsicht wirkt "Tantrum" noch heute erstaunlich modern und aktuell: Es geht um Erwachsene, die nicht erwachsen sein wollen, um Burn-out (hier eher privat als beruflich), um magersüchtige Frauen und um fast volljährige Kinder, die keine Anstalten machen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Ähnlich wie der "Tantrum"-Antiheld Leo suchte auch Feiffer nach Freiheit: Statt zunächst mit Bleistift vorzuzeichnen, wollte er Bilder und Worte hier mit der "Spontaneität und Frische von Kindern" direkt aufs Papier schleudern. Diese Energie prägt das Werk: Die Zeichnungen wirken wie schnelle Skizzen, bilden oft eher die Bewegung denn die Gestalt einer Figur ab und faszinieren mit fiebrigen Schraffuren.
Feiffer gelingen urkomische Dialoge. Als Leo Quog etwa seinen überheblichen Bruder in dessen Büro aufsucht, nimmt der die Metamorphose zum Kleinkind gar nicht wahr und tönt: "Leo! Good to see ya! Lookin' good. Lost weight. Got a hair piece. Fabulous! Miss Swallow, two Perriers."
Jetzt die schlechte Nachricht: Trotz witziger Dialoge und prägnanter Bilder funktioniert "Tantrum" als sequenzielle Erzählung nicht besonders gut. Feiffer bezeichnet seine Geschichte als "novel in cartoon form". Vielleicht bezieht sich "cartoon" nur auf den karikierenden Stil, vielleicht aber auch auf die gesamte Struktur des Werks. Blättert man "Tantrum" nur flüchtig durch, erweckt es den Eindruck einer Cartoonsammlung: Pro Seite gibt es meist nur ein einziges, großes Panel. Und so dynamisch viele Bilder für sich genommen wirken, so holprig sind viele Übergänge von Seite zu Seite – was hier ja von Panel zu Panel bedeutet.
Ganz anders als in seinen "Village Voice"-Strips, in denen der Leser in höflicher Distanz und auf Augenhöhe mit den Figuren verharrt, wechselt Feiffer hier innerhalb von Dialogszenen mitunter zwischen mehreren extremen Perspektiven. Er springt brüsk von einer Szene zur nächsten, wobei viele Szenen nur ein einziges Panel einnehmen. Eine Sequenz jedoch ist filmisch erzählt: Bei Leos Begegnung mit dem Geheimbund erwachsener Babys wählt Feiffer Einstellungen und "Schnitte" des Kinothrillers, wobei er das Genre durch die absurden Charaktere gleichzeitig parodiert.
Somit verweigert Feiffer sich der Continuity-Montage à la Hollywood offenbar aus Prinzip. "Tantrum" handelt von Menschen, die bevorzugt aneinander vorbei reden und von einem aus der Bahn geworfenen Normalbürger. Das Chaos in Leos Leben und in Leos Kopf ist bei jedem Umblättern spürbar.