"Die Löwen von Bagdad" von Vaughan und Henrichon
Ein Tier-Comic, aber nichts für die Kleinen:
"Die Löwen von Bagdad"
(© 2006 Brian K. Vaughan and Niko Henrichon;
dt. Ausg.: © 2007 Panini Verlags-GmbH)
Eine wahre Geschichte: Im April 2003 entkamen während des Angriffs der US-Streitkräfte und ihrer Verbündeten auf Bagdad vier Löwen aus dem lokalen Zoo, irrten eine Zeit lang durch die Stadt und wurden schließlich von G.I.s erschossen, als zwei der Tiere die Soldaten angriffen.
Sehr viel mehr passiert auch nicht im Comic-Roman "Pride of Baghdad" (DC/Vertigo), der von dieser Meldung inspiriert wurde und der Ende 2007 als "Die Löwen von Bagdad" bei Panini auf deutsch erschienen ist. Einige dichterische Freiheiten hat sich der Szenarist Brian K. Vaughan ("Y – The Last Man", "Ex Machina") aber herausgenommen – etwa jene, die vier Löwen sprechen zu lassen.
Dabei orientiert sich Vaughan weniger an der Comic-Tradition anthropomorpher Tierfiguren ("Krazy Kat", "Donald Duck") als an älteren literarischen Vorbildern. Das macht bereits das erste Panel des Comics deutlich: Ein hysterischer Vogel provoziert die Löwen mit dem wiederholten Ruf "Der Himmel stürzt ein!" ("The sky is falling!") – ein Verweis auf die Fabel von "Chicken Little", die im englischen Sprachraum jedes Kind kennt (und die als Vorlage für den Disney-Film "Himmel und Huhn" diente). Vaughans wichtigste Vorbilder sind aber offenkundig die Fabeln Aesops, in denen Tierarten für menschliche Verhaltensweisen stehen, und das "Dschungelbuch" von Rudyard Kipling, dessen Tiere ihrem Sprachvermögen zum Trotz wilde Geschöpfe bleiben (in der nicht disneyfizierten Buchvorlage). Auch Menschen treten auf, sowohl Iraker als auch Amerikaner, allerdings als anonyme "Wärter" oder "Geher", deren Gesicht man nie zu sehen bekommt.
Der von mir durchaus geschätzte Comic-Großkritiker Stefan Pannor ("Spiegel Online", "Satt.org") mokierte sich kürzlich darüber, dass die hungrigen Löwen eine Menschenleiche nicht fressen (was eher daran liegt, dass sie etwas Besseres finden) und dass sie sich zur Kopulation in die Büsche schlagen (was tatsächlich etwas albern wirkt). Dennoch: Entfernte man alle Sprechblasen aus diesem Comic, man sähe nur Tiere, die sich wie Tiere verhalten – eine kleine Meisterleistung von Texter Vaughan und mehr noch von Zeichner Henrichon.
Der noch recht unbekannte Künstler Niko Henrichon ("Barnum") dürfte genau das die längste Zeit gewesen sein. Henrichon hat Vaughans Szenario in faszinierend detaillierte, beeindruckend realistische Panels umgesetzt. Lächelnde Löwen sucht man hier vergebens. Um die Gefühle der Tiere auszudrücken, orientiert sich Henrichon an ihrem natürlichen, sparsamen Minenspiel und lässt seine Panels ansonsten durch Bildaufbau, Perspektive und eine berauschend atmosphärische Kolorierung sprechen.
Szenarist Vaughan beschreibt sein Löwenquartett so: Die Löwinnen Rafa und Noor stehen für resignierte Zustimmung zur Diktatur bzw. für Rebellion gegen jede Form von Unterdrückung. Der Rudelchef Zill verkörpert opportunistisches Abwarten (laut Vaughan ist Zill die Jedermann-Figur des Dramas). Und das Löwenjunge Ali, das nur die Gefangenschaft kennt, ist die pure Naivität.
Klugerweise verzichtet der Szenarist darauf, religiösen Fanatismus, Selbstmordattentate oder die Suche nach ominösen Massenvernichtungswaffen tierisch-satirisch dazustellen. All das hätte selbst bei größter Finesse und Sorgfalt im Plumpen und Prätentiösen enden müssen. Statt dessen treffen die Löwen nun zwar gegen Ende auf das – eigenwillig gewählte – brutale Symboltier von Saddams Diktatur, was in der Geschichte ansonsten kreucht und fleucht, nimmt jedoch keine so klar definierte Position ein.
Vaughans Szenario spielt nicht im aktuellen Bagdad, sondern entsprang seinen widerstreitenden Gefühlen vor und während der Invasion von 2003. Das Zeug zum Klassiker hat "Pride of Baghdad" aber gerade, weil Vaughan den Irakkonflikt als Grundlage für eine zeitlose universelle Geschichte über Freiheit und Tyrannei verwendet.
Kein Bonus, sondern ein Kernpunkt dieses Konzepts ist, dass er das Tierabenteuer zur Reflexion über die Macht von Symbolen nutzt. Es beginnt bereits im – unübersetzbaren – Titel des US-Originals: "Pride of Baghdad" kann im Englischen sowohl "Stolz" als auch "Löwenrudel von Bagdad" bedeuten. Dies ist mehr als eines von Vaughans häufigen – und manchmal nervenden – Wortspielen. Sein ganzes Szenario handelt davon, dass Symbole, ob nun Wörter oder Bilder, mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden und für unterschiedliche Betrachter unterschiedliche Dinge bedeuten können.
Kurz nach ihrem Ausbruch schreiten die Löwen zwischen den infamen "Schwertern von Qadisiyyah" hindurch, auch bekannt als "Hände des Sieges": zwei gigantischen Stahlschwertern, die gemeinsam einen Bogen bilden und von mächtigen Bronzehänden gehalten werden, die angeblich nach Saddams Vorbild geformt sind. Unter den Schwertern liegen mehrere tausend Helme, die von iranischen Soldaten stammen sollen, die im Ersten Golfkrieg (1980–1988) gefallen waren. Die arglosen Raubkatzen aber halten den teuflischen Triumphbogen für das Tor zum "Paradies" – ein fataler Irrtum, wie sich zeigen wird.
Immer wieder trifft das kleine Rudel auf das Symbol des "Löwen von Babylon". Eine greise Tigris-Schildkröte erzählt ihnen von der so bezeichneten antiken Basaltstatue, die etwa 90 km südlich von Bagdad in den Ruinen Babylons steht, einst ein Symbol für die Stärke des Reiches. Kurz darauf werden die Tiere fast von den "Löwen von Babylon" überrollt: Diesmal sind es die gleichnamigen irakischen Panzer. Schließlich findet Noor in einem ehemaligen Palast des Regimes das riesige Gemälde eines geflügelten Löwen, das sie mit naivem Stolz erfüllt. Kurz darauf trifft sie im selben Gebäude allerdings auf die verstörende lebendige Umkehrung desselben Symbols.
Die weise Tigris-Schildkröte klärt die Löwen über die Tücken der Symbole auf: "Weißt du, Geher sagen nie was sie meinen". Und sie deutet auch die Macht der Zeichen an: "Alles hat einen Namen. Damit macht man klar, dass einem irgendwelcher Kram gehört."
Ob Bagdad seinen Stolz wiedergewinnen wird, so lässt sich "Pride of Baghdad" interpretieren, hängt vielleicht davon ab, ob die Iraker alte Zeichen mit neuem Sinn füllen können. Diese Leerstelle birgt die Chance auf Freiheit, sofern sie nicht von religiösen Fanatikern oder anderen Extremisten gefüllt wird.
Am möglichen Vorbild USA scheint Vaughan jedoch ebenfalls starke Zweifel zu hegen: Kurz nachdem ihre Kugeln alle vier Löwen zerfetzt haben, bekommt erstmals die amerikanischen Soldaten zu Gesicht. Dabei zeigen Vaughan und Henrichon zunächst allerdings nur den bildfüllenden "Stars and Stripes"-Aufnäher eines Soldaten, davor eine Sprechblase: "Großer Gott!" (im Original: "Jesus Christ"). Die Demokratiekrieger aus "God's Own Country" bringen nach dem Sturz des Dikators neue Gewalt ins Land.
Als die Löwen tot am Boden liegen, fragt einer der konsternierten Schützen: "Die leben hier doch nicht wild, oder?" "Nein, nicht wild", antwortet sein Vorgesetzter, "sie sind frei." Ob es sich hierbei um Erkenntnis oder Euphemismus, um eine bittere Wahrheit oder eine schöne Lüge handelt, muss der Leser selbst entscheiden, denn es ist der letzte Dialog dieser Graphic Novel. Man mag ihn kitschig oder kritisch finden, ebenso wie den ganzen Comic. Fest steht: Es sind just diese Ambivalenzen, derentwegen "Die Löwen von Bagdad" im Gedächtnis bleiben.
"Die Löwen von Bagdad"
Text: Brian K. Vaughan; dt. v. Claudia Fliege;
Grafik: Niko Henrichon
Panini 2007; 140 Seiten, 16,95 Euro.