"Sandman: Das Puppenhaus" von Neil Gaiman
Die Teilnehmer der "Cereal Convention" haben Mordsspaß
(© 1989,1990,1995 DC Comics;
dt. Ausg.: © 2007 Panini Verlags-GmbH)
Obwohl die Serie "Sandman" auch hierzulande immer wieder gern als Musterbeispiel für "literarische" Comics genannt wird, hat Neil Gaimans über 2000-seitiges Epos bei uns jahrelang eine eher stiefmütterliche Behandlung erfahren. Feest/Ehapa veröffentlichte die Episoden in den 90ern nicht in der Reihenfolge des US-Originals, teilte die amerikanischen Sammelbände, wie damals leider üblich, in jeweils zwei Bücher auf und stellte die viel gelobte, aber wohl doch nicht so viel gekaufte Serie nach etwa zwei Dritteln ein. Später führte der Verlag Thomas Tilsner ("Speed Comics") die Serie zu Ende, freilich waren die ersten Geschichten nun nicht mehr lieferbar und blieben es auch für lange Zeit.
Seit April 2007 bringt Panini nun die Neuedition von "Sandman" heraus und hält sich dabei erfreulich eng an die Originalausgaben. Im Juni ist "Das Puppenhaus" erschienen, der zweite Band der in den USA von 1988 bis 1996 veröffentlichten Serie. Inwieweit sich die neue (und größtenteils angenehm flüssige) Übersetzung von Gerlinde Althoff ("Promethea", "Fables") von der seinerzeit in der Szene gefeierten Übertragung Frank Neubauers unterscheidet, kann ich nicht beurteilen, denn ich habe Sandman bislang größtenteils im Original gelesen. Ich nehme aber an, man hat einige Schnitzer beseitigt, die aufmerksamen Lesern im Gesamtzusammenhang der Serie aufgestoßen wären.
Auf jeden Fall macht der neue, angenehm wuchtige Paperback-Band haptisch wie optisch mehr her als die zwei schlabbrigen Softcover "Das Puppenhaus" und "Verlorene Herzen", in die man die Storyline "A Doll's House" 1995 bei Feest zerteilt hatte, um sie entgegen der US-Chronologie als Band 6 und 7 herauszubringen.
Nachdem der Herr der Träume in Band 1 ("Präludien & Notturni") von einem Schwarzmagier gefangen genommen worden war und sich nach der Befreiung mühsam seine geraubten Insignien zurückerstritten hat, nimmt er zu Beginn des zweiten Bandes erst einmal eine Volkszählung im Traumland vor und stellt fest, dass einige seiner Schöpfungen in die Realität entfleucht sind, darunter der "Korinther", ein Alptraum mit Zahnreihen anstelle von Augenlidern, und "Fiddler's Green", eine Art Ort mit Bewusstsein (hey, Kopfschüttler: es geht hier ums Traumland!). Außerdem entdeckt Dream, wie sich der anglophile Herr der Träume auch im Deutschen gern nennt, einen Traumwirbel: einen Menschen, der das ganze Traumgefüge durcheinanderbringen und zerstören könnte. Und so bricht der "Sandman" auf, die Ausreißer einzufangen und den Wirbel unschädlich zu machen.
"A Doll's House" erschien in den USA kurioserweise als erster "Sandman"-Sammelband, also noch vor "Preludes & Nocturnes", der die Anfangsepisoden enthält. Im Verlagshaus DC hielt man die spätere Storyline für besser geeignet, um neue Leser an die Serie heranzuführen. Tatsächlich waren Dream und sein Vater Gaiman in den frühen Geschichten noch etwas orientierungslos durch den Superhelden- und Horrorkosmos geirrt, erst später offenbarte sich das wahre Potenzial der Serie. Aufgrund dieser exzentrischen Publikationshistorie enthält "Das Puppenhaus" als einziger Sammelband der Reihe eine Prosa-Zusammenfassung der vorangegangenen Episoden – in die Gaiman freilich diverse Details mogelte, die in Band 1 gar nicht vorkommen.
Erst im "Puppenhaus" kann man wirklich entscheiden, ob man "Sandman" mag oder nicht. Der Band ist typisch für die Serie und zeigt, wohin die Reise geht. "Dream" ist zwar einerseits nach wie vor die zentrale Figur, andererseits dient er nur als Katalysator für die Stories weiterer Charaktere. Eigentliche Heldin von "Das Puppenhaus" ist die junge Rose Walker, die sich auf die Suche nach ihrem verschollenen Bruder begibt.
Gaimans Serie verdankt ihren Ruhm vor allem der Tatsache, dass der Autor das Erzählen von Geschichten und die Lust am Träumen selbst zum Thema macht. Band 2 beginnt mit einer – von Gaiman ersponnenen – afrikanischen Sage. Später trifft Rose Walker in einer schrägen Pension u. a. auf die reale Version von Barbie und Ken, ein verklemmtes Paar, dass seine Libido nur im Traum ausleben kann. Zu Gaimans skurrilsten und besten Ideen zählt das Jahrestreffen der Serienkiller, in das Rose bei ihren Nachforschungen platzt. Die irren Mörder bezeichnen sich hier selbst als "Sammler" und erinnern nicht von ungefähr an unreife Comic-Sammler. Ihre Versammlung ist eine verrückte Parodie auf Comic- und Science-Fiction-Conventions, die Gaiman natürlich gut kennt. Ein unübersetzbarer Gag ist die Tarnung der mörderischen Versammlung als "Cereal Convention": cereal (Getreide) und serial (Serien- wie in Serienkiller) klingen im Englischen fast gleich.
In einem Intermezzo um einen Mann, der nicht sterben will (und es deshalb einfach nicht tut), lässt Gaiman Geoffrey Chaucer auftreten: Der Dichter der "Canterbury Tales" muss sich bei einem Kneipengespräch vorhalten lassen, niemand wolle "schmuddelige Reime über irgendwelche Pilger" lesen. Später nimmt Dream in derselben Kneipe William Shakespeare unter seine Fittiche, da es dem jungen Mann bislang noch an Talent mangelt.
Derlei intelligente Ironie ist wohl der vergnüglichste Aspekt der Serie. Manche Anspielungen wirken freilich gewollt und prätentiös. So bezieht sich der Titel "Das Puppenhaus" nicht nur auf die diversen großen und kleinen Häuser des Bandes, deren sterblich wie unsterbliche Bewohner hier in bizarre Spiele geraten. Nein, laut – dem für Fans übrigens unentbehrlichen – Handbuch "The Sandman Companion" ließ sich Gaiman vielmehr von Ibsens Theaterklassiker "Nora oder Ein Puppenheim" und einem Roman der hierzulande eher unbekannten Autorin Rumer Godden inspirieren.
So so.
Dass eine Figur aus dem Traumreich die Gestalt des Satirikers und "Pater Brown"-Erfinders G. K. Chesterton annimmt, erklärt Gaiman im "Companion" damit, dass er Chesterton halt mochte.
Aha.
Noch viel seltsamer mutet die Nebenfigur des belämmerten Hector Hall an, ein parodistischer Verweis auf den 70er-Jahre-Superhelden "Sandman", erdacht von den Comic-Veteranen Joe Simon und Jack Kirby. Hier wirkt Gaiman fast so nerdy wie die Comic-Freaks, über die er sich an anderer Stelle lustig macht. Oder wollte er vielleicht selbstironisch auf ebendiese Ähnlichkeit hinweisen?
Viel mehr als Gaimans kleine Schlaumeiereien stört mich freilich die Grafik. Zugeben, der Band tut nicht gerade dem Auge weh und bietet sogar einige Schmanklern. Zeichner Mike Dringenberg steuerte die Idee bei, einige in der Traumwelt spielende Panels um 90 Grad zu kippen, was den Leser zum Drehen des Bandes zwingt und einen interessanten Schwindeleffekt auslöst. Außerdem gelingt ihm eine hübsche Parodie auf Winsor McCays klassischen Zeitungs-Comic "Little Nemo", und auch beim Serienkillerkongress findet sich Gaimans beißende Ironie in den Bildern wieder (siehe Abbildung oben).
Letztlich ist Mike Dringenberg jedoch einfach kein sonderlich inspirierter Zeichner. Fans rühmen, dass er den Look der Serie geprägt habe. Nun ja, deshalb sehen Dream und seine Geschwister jetzt aus, als hätten sie viel zu viele "The Cure"-Videos gesehen. Gesten und Mimik wirken bei Dringenberg oft hölzern und behindern den Lesefluss, was durch das fisselig-spröde Inking von Tuscher Malcolm Jones III. noch verstärkt wird.
Überzeugender ist da schon Michael Zullis zeichnerisches Gastspiel in der Mitte des Bandes. Etwas später zog der Erfolg der Serie dann Talente wie Jill Thompson ("Scary Godmother") oder Marc Hempel ("Gregory") an, und siehe, es war als riebe man sich den Schlaf aus den Äuglein und entdeckte den "Sandman" völlig neu.
Sandman [Bd. 2]: Das Puppenhaus
Text: Neil Gaiman; dt. v. Gerlinde Althoff;
Grafik: Mike Dringenberg u. a.;
Panini 2007, 228 Seiten, 19,95 Euro.